I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 266

31.
box 5/4
Fraculein Else
1A
Extrait du journal
STAFA
Adresse
Date
1 6 Oke
Mit gemischten Gefühlen begegnet der Verehrer von Arthur
Schnitzlers fein instrumentiertem Bühnenschaffen dem Unter¬
sangen des Wiener Theatermannes Ernst Lothar, Schnitzlers
tragische Novelle „Fxäulein Else“ für die Bühne „zurecht¬
zubearbeiten“. Ein ausgesprochen novellistischer Stoff wird denn
auch durcht Lotharfrichtiggshend vergewaltigt und in 7 Bilder
zerstückelt, deren Ablauf epentuell mit Hilfe eines guten Dreh¬
ouches filmisch hätte verwertet werden können. Der Dialog leidet
an kaum erträglichen Zerdehnungen; er zeigt stellenweise eine
hilflose Aeberdeutlichkeit, die wayrhaftig dem bei Schnitzler
so
wertodllem Reichtüm anf empfindungsechten Zwischentönen nicht
das Wasser zu reichenvermag.
— Mit ein paar Sätzen sei
hier der Inhalt umrisset: Fräulein Else, Tochter eines tüchtigen
Rechtsanwaltes in Wien, verbringt ihre Ferien irgendwo an
der Adria; dort erreicht sie die Nachricht, daß der Papa innert
kürzester Zeit ein beträchtliches Depot zu ersetzen habe, ansonst
ihn Verhaftung bevrohe. Elses Bemühungen, bei einem im glei¬
chen Hotel weilenden Bekannten der Familie die nötige Summe
vorgestreckt zu erhalten, sind erfolgreich — sie meldet dies freu¬
dig nach Hause, verschweigt aber die tief verletzende Bedingung,
die der geldgebende „Ehrenmann“ an seinen Vorschuß geknüpft
hat; Else erfüllt die Bedingung, dem skrupellosen Dorsday ihre
Mädchenschönheit unverhüllt zu zeigen
— und scheidet im glei¬
chen Augenblick (durch die Wirkung schon vorher eingenommenen
Veronals) aus dem Leben. — Nachdem (bei Ernst Lothar) sechs
Bilder für die „Spannung“ benötigt wurden, um diesen Frei¬
todorzubereiten, verliert natürlich der tragische Ausgang an
Tiefe wirkung — dies umso mehr, weil die meisten der Figuren
rund um Else etwas forciert berühren.
Im Mittelpunkt der von Steckel einstudierten Auffürung
steht Ellen Schwanneke, deren verhaltenes Spiel Fräu¬
lein Else jene Anteilnahme sichert, die wir gern dem ganzen
Werk entgegenbrächten. Erwin Kalser, Kurl Horwitz, Josy Hol¬
sten, Marta Hartmann und andere setzen alles ein, die zum
Teil recht schematischen Gestalten zu glaubhaftem Leben zu er¬
rcken. Den künstlerischen und technischen Aufwand dieses Abends
suhe man gerne einer wertvollen Dichtung zugewendet.
„OBSERVER'
I. österr. behördl. konzessicniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
National-Zeitung,
Basel, 16.18.1938
vom:
iener Theater,
Rah
Auch
Schnitzler=Lothars „Fräulein
Elie“, im Theäter in der Josefstadt, ist kein Stück
für Postbeamte, obwohl das Trauerspiel, das aus der
Novelle wurde, in einer Luxussphäre und sogar in
San Martino vor sich geht. Das tut auch Schnitz¬
lers erzählerisches Meisterwerk, eber es ist das San
Martino der Vorkriegszeit, die bevorzugte Dolomitet¬
landschaft der Wiener bevorzugten Gesellschaft jener
Tage. Die Verlegung in die Gegenwart, aus Theater¬
rücksichten entsprungen, erhöht auch sonst die Stich¬
haltigkeit des ganzen Vorgangs nicht, denn die Be¬
dingung des reichen Lüstlings, der, wie er sich aus¬
drückt, die Dinge gern nackt beim Namen nennt, dem
armen Fräulein Else gegenüber, die ihn um ein
Sechzigtausend=Schilling=Darlehen (welch ein. fil¬
mischer Betrag!) für ihren Vater angeht, ist durch
das moderne Abendkleid, in dem sie ihre Bitte vor¬
bringt, bereits zur Hälfte vorweggenommen. Die von
Lothar aus Eigenem hinzugefüge Szene, in der der
ederliche Vater Elses ein edles Selbst enthüllt,
schal“t nicht nur eine reizvolle Gelegenheit für Basser¬
manns immer deutlicher zu Tage tretende Père¬
noble=Qualitäten, sondern ist auch an sick eine der
besten und theaterwirksamsten des Stückes, vielleicht,
weil sie nicht erst aus dem Epischen in die dramatische
Tonart übertragen werden mußte. Soweit diesem
Stoff dramatisch überhaupt beizukommen ist, hat der
Bearbeiter sein Ziel erreicht und darüber hinaus eine
sehenswerte Vorstellung geschaffen. Die Stradner
scheint ein geborenes Fräulein Esse Brandhofer,
ein nester Schauspieler in mittleren Jahren und rätsel¬
hafter Herkunft, mit einem blonden Tiroler Bauern¬
bart und einem an Werner Kraus erinnernden
tößigen Profil, sie#hn der Rolle des genußsüchtigen
Dorstay nicht nur auf, sondern wie ein Meister vom
Himmel. Mittlerweile hat sich allerdings heraus¬
gestellt, daß er eigentlich Reuß heißt und daß ihm
der Tiroler Blondbart erst infolge zeitbedingter
Engagementlosigkeit wuchs.
So hätte die Wiener
Bühne auf einem komödienhaften Umweg einen
hervorragenden Schauspieler gewonnen, der ihr als
Brandhofer teuer wurde, nachdem sie als Reuß die
längste Zeit nichts von ihm hatte wissen wollen.