I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 24

30. Casanovas Heinfahrt
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A
— J 000 Reserdes an. Zanostaem
offiziere sowie 1660 weibliche Hilfskräfte 4,657.912 Kronen, für
berühmten Casanova in einer Weise erkenntlich zu zeigen,
die das gewöhnliche Maß der Dankbarkeit weit überstieg.
Amalie empfängt den berühmten Gast noch herzlicher
als Olivo und erklärt ihm in der ersten, unbelauschten
Minute, daß ihre Gefühle für ihn unverändert geblieben
seien usw. Casanova will davon nichts hören. Denn im
Hause Olivos lebt Marcolina, seine Nichte, ein kühl schönes
Mädchen, das sogleich Casanovas stets lauernden Sinne
entflammt.
Die Gestalt Marcolinas ist es nun, an der Schnitzlers
Novelle, wenn nicht geradezu scheitert, so doch krankt.
Marcolina ist eine Gelehrte und beschäftigt sich mit
der abstraktesten aller Wissenschaften, der höheren Mathe¬
matik. Sie steht mit berühmten Professoren dieser Diszi¬
plin im Briefwechsel. Sie verfügt über einen klaren, un¬
erbittlich scharfen Verstand, die gewöhnlichen Vergnügun¬
gen und Leidenschaften junger Mädchen kennt sie nicht und
sieht mit spöttischer Verachtung auf sie herab.
Casanovas Name, der noch immer die Frauen leise
erschauern macht, wenn auch nur noch mit einem Gefühl
des Bedauerns über das allzu Späte der Begegnung, läßt
Marcolina ganz kalt. Seine Annäherungsversuche weist
sie mit unverhohlenem Ekel zurück. Seine gewandte Kon¬
versationskunst, seine mystischen Schwätzereien über die
Kabbala werden an ihrem überlegenen Geist zuschanden.
Er erlebt Niederlage auf Niederlage und seine Begierde
wird immer wütender entflammt.
Und diese selbe Marcolina, die von den Männern über¬
: verperte oder D eifache) gegen¬
über der 'ungeheuren Summe von über zweihundert Mil¬
lionen Kronen aus, die der liquidierende „Moloch“ noch
haupt nichts wissen will, unterhält ein rein sinnliches
Liebesverhältnis mit einem wüsten, völlig geist= und seelen¬
losen, brutalen Subjekt, dem Reiterleutnant Lorenzi, der
nichts für sich hat als rohe Jugendkraft und die Schönheit
seines Körpers. Er hat eben ein Liebesverhältnis mit
einer lüsternen, alten Marchesa abgebrochen. — Wenn ein
sinnliches Mädchen sich an einen Athleten wegwirft, ist der
Fall ganz klar; aber eine kühl besonnene Mathematikerin
Marcolina, die sich an diesen wüsten Spieler Lorenzi hin¬
Gewiß — der Fall
gibt, ist ein psychologisches Unding.
wäre denkbar; aber er müßte uns klar und verständlich ge¬
macht werden. So aber steht er als ungelöstes Rätsel da,
noch immer da, wenn man das Buch aus der Hand legt. —
Endlich wird Casanovas Verlangen gestillt. An einem
aufgeregten Spielabend verliert Lorenzi eine Summe an
den Marchese, dem Gatten seiner ehemaligen Geliebten,
deren Rückerstattung ihm völlig unmöglich ist. Casanova
hat gewonnen und macht auf einem einsamen Spaziergang
dem Leutnant in aller Ruhe den Vorschlag: für das notige
Geld, das Casanova ihm sofort zu übergeben bereit ist,
willige Lorenzi ein, daß Casanova in seinem Mantel in
der heutigen Nacht zu Marcolina schleiche. In der Finster¬
nis werde sie ihn nicht erkennen.
Lorenzi nimmt an, ohne ein Wort der Erwiderung,
ohne eine Miene zu verziehen. Die ganze Szene ist meister¬
haft geschildert. Wie dieser Schurkenplan kühl und sachlich
von dem einen Schuft dargelegt und von dem andern Buben
angenommen wird, ist glänzend dargestellt.