I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 27

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Casanovas Heimfahrt
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„Wiener Lonn= und Mantags-Beitung“.
10. Februar 1919
Nr. 6
estellung.
Viel schärfer gingen die Meinungen beim nächsten Programm¬
Kontrast zu seiner früheren naturalistischen Sachlichkeit steht, der
auber
punkt auseinander: die Ausirrache über denselben führte auch noch
andere mit deren Akzent, der zerfasernden Kunst seiner überlegenen
nlassung
zu keiner Einigung und soll demnächst fortgesetzt werden. Es
Psychologie. „Der Ketzer von Soana“ von Hauptmann und
sstandes
handelte sich um de neue Bestimmung, der zufolge von nun ab
„Casanovas Heimfahrt“ von Schnitzler sind beide erotische Er¬
Soldaten
nur Angehörige der „deutschösterreichischen Natio¬
zählungen. Das Italien deutscher Sehnsucht ist mit seiner schön¬
wurden
nalität“ in den Ausschuß gewählt werden können. Tatsächlich ist
heitsüberstrahlten Gebirgswelt der Schauplatz für das tragliche
diese Bestimmung in doppelter Hinsicht bedenklich. Erstens wegen der
Liebesidyll Hauptmanns und die leuchtenden Farben dieser Natur
nicht einwandfreien Bezeichnung; denn es gibt wo l deutschöster¬
blden einen wundersamen Zusammenklang mit der jäh entflam¬
reichische Staatszugebörigkeit, Staatsbürgerschaft und
menden Leidenschaft des jungen Priesters zu einem der Sünde
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deutsche Nationalität, aber „deutschösterreichische Natio¬
entsprossenen Naturkinde. Unter allen Werken Haupimanns ist diese
nalität“ ist eine etwas gewagte Bezeichnung eines schwankenden
in engen Rahmen gepreßte Erzählung die sinnlichste. Sie wirkt in
Tegrisses. Zweitens wegen des Inhalis, der verlassen von künst¬
en.
ihrem heißen Uieberschwang, ihrer vibrierenden Leidenschaftlichkeit
lerischem Geiste, pelitiiche Begrenztheiten schaffen will, welche dem
we ein Juge d.verk. Sie ist wie en Bekenntnis zu allem Ur¬
meldet
Hause nur Nachteile, aber keine Vorte le bringen können. Freilich
sprünglichen, zur inbrünstig pantheistlichen Hingabe an die Natur
London
ist in dieser Zeit der hochg henden nationalen Wogen auch in
und dem elementaren Geschlechtsempfinden. Es ist eine fast
oliti¬
unserer Künstlergenossenschaft eine diesbezüglich gereiie Stimmung
beidnische Welt, die antike Sinnlichkeit des Theokeit nach dem
erzielte
begreiflich. Aber wir müßten unsere Ueberlegenen gerade in
grauen Alltag der Hauptmannschen Frühwerke.
brüber¬
solcher Ziit beweisen, wie dies soelen der prachtvolle Apreell
Schnitzler versent sich in das Seelenleben des alternden
d der
Barbusses und seines Kreises bewiseen hat, der alle geistigen
Casanova. Verlohende Flammen, ein letztes Aufzucken nimmersatten
e Ant¬
Arbeiter, hüben und drüben, zu gemeinsamer Ueber¬
Liebesbegehrens sind in dem fünszigjährigen Chevalur von Sein¬
ind er¬
brückung all der durch Krieg, Politik, Nationalität, Kon¬
galt. Der Abend senkt sich schwermütig berad über ein Leben un¬
zentige
fession 2c. erzeugten unmenschlichen und kurzsichtigen Anschauungen
erhörter Abenteuer. Der Eroberer ist müde geworden, sein Herz
eid der
aufruft. Ich möchte den Fall, der jetzt im Künstlerhause zur Dis¬
krank vor Sehn ucht nach der lange gemiedenen venez anischen
#e ihre
kussion steht, an einem Beispeel erläntern. Ein fremder Maler,
Heimat. Dieser gealierte Casanova ist ein Vergessener, Geremütigter,
sagen wir ein Spanier, wird nach Wien verschlagen und wird
seine entflohene Jugend, der verblaßte Glanz seines Ruhmes er¬
Lage
Mitglied des Künstlerhauses. Er ist ein ausgezeichneter Künstler,
füllt ihn mit Erbitterung und einer unsagbaren Traurigseit des
daß es
auch sonst eine kluge und tatkräftige Persönlichkeit. Wäre es nicht
Herzens. Um die Heimkehr erlangen zu können, willigt er in die
#beiter¬
ein Schaden für das gesane Künstlerhaus, eine solche ersprie߬
Ernedrigung en. Spionendienste vom Rate in Venedig anzunehmen.
nd g
liche Kraft nicht in den Ausschuß senden zu können? Umgekehrt,
Der Gott ose wird zum Pamphletisten des Gottesleugners Voltaite.
r frag¬
ist ein Ausländer nicht tüchtig, so müßte er ja nicht zum Mitglied
Casanovas frivoler Geist setzt sich in Gist um. In dieser Seelen¬
des Hauses ernannt, geschweige denn in den Ausschuß
lage findet er im Hause seines einstigen Schürlings Olivo, dessen
gewählt werden! Das hängt doch jederzeit nur vom
Frau er verführt, die schöne, geistvolle Marcolina, ein junges. sich
Plenum ab! Wozu also den neuen Poragraphen? Nur um sich
1.
scheinbar spröde versagendes Weib, das ihm unter allen Frauen,
auch im wänschenswerten Falle selbst die Möglichkeit der Wahl
deren Gunst er eroberke, als die einzige erscheint, die er lange und
eines Andländers zu versperren? Rebstbei bemerkt, würde damit
vergeblich mit der Seele gesucht. Aber es ist zu spät. Marcolina hat
ssentli¬
auch der für eine Künstlervereinigung schier monströse Zustand ge¬
nur lühlen Spon für den gealterten Abenteurer. Ibre hingebende Liebe
tatters
schaffen, daß ein Künstler, ein erdeutliches Mitglied, zwar das
gehört dem leichtsinnigen Lorenzi, der in seiner Schönheit wie ein
könne,
oktive, nicht aber das passive Wahlrecht häute. Hoffentlich wird im
Ebenbild des jungen Casanova wirkt. In den Mantel Lorenzis
unden,
Künstlerhause die Besonneneit im eigensten Interesse des Hauses
gehüllt, beschleicht Casanova in einer Nacht das junge Mädchen
le mit¬
sowohl, wie im Interesse des guten Rufes, den sich Oesterreich
und erringt durch einen täuschenden Betrug ihre Hingabe. „Alter
h uns
gerade durch die Behandlung selbst der seindlichen Ausländer
Mann“, mit diesem Zuruf am grauenden Morgen nach einer
ihrer
im Kriege mit anerkanntem Erfolge erworben hat, siegen über
Liebesnacht rächt sich Marcolina an dem Betrüger bitterer als
schung
einen mißverständlichen, der Kunst weder würdigen, noch oppor¬
durch jede Schmähung. In dieser Erkenntnis seines phrsischen
übri¬
tunen Abspeirungsstandpunkt.
Pleia-alr.
Niederganges erlischt die letzte Flamme des Abenteur.i3. In¬
hoffnungstoser Trauer kehrt er in die schmerzlich ersehnte Heimats
nst
stadt ein, um niedrige Spionendiense zu verrichten. Schnitzlers
Frage
Bücher der Saison.
Erzählung ist von einem bezanbernden Rhythmus der Darstellung,
sobald
ein Werk zarter künstlerischer Finessen, delikater Schönheiten, die
thin¬
Von Hermann Menkes.
jedoch den Kontaft zu dieser menschlich unsagbar verarmten Ge¬
n die
Wenn man einmal von den Büchern sagte, daß sie wie
stalt des senilen Amourösen im Leser nicht erringen kann. Es
schechi¬
Menschen ihr Schicksal haben, so meinte man damit in den meisten
bleibt ein Rest einer etwas gesuchten Psychologie in dieser noblen,
ds er¬
Fällen ein tragisches Schicksal. Es gab stets Werke, die in die
herbstlich reifen Kunst der Schnitzlerschen Novelle.
Wir
Swigkeit gelangten, ohne die Gegenwart eiringen zu können,
Den großen Zeitroman bietet Heinrich Mann, der früher
er, die
Bücher, die nach langer Verschollenheit über das Leben ihrer
dionysisch gesimmte Dichter der „Herzogin von Assy“ und
u wir [Urheber hinaus plötzlich mit ihrer Schönhet und ihrer neuen
„Zwischen den Rassen“, in seinem „Uniertau“. Das Werk erscheint
Gedankenwelt aufleuchteten. Darüber konnte ein Jahrhundert und
#ftür zeitlich späler als „Die Armen“, ging aber diesem Bide
chtung
mehr vergehen. Sie mußten auf eine neue Menschheit warten
tragischen Ringens aus proletarischem Elend in der Nieder¬
Sibi¬
zumindestens auf eine neue Generation. Die Denker und Dichter
schrift veran. „Die Armen“, das sind die Zukünstigen,
Hand
waren Vorläufer eines neuen Gedankens, einer anderen Wirklichkeit
der „Untertan“ aber, wie Mann ihn schildert, der niedergegangene
aß wir
und mußten von ihrer Umwelt oft unverstanden bleiben. Unsere
Typus des Strebertums und der kindischen Nachahmungssucht ans
h uns
Zeit ist wohl nicht verständnisvoller, aber tüßerner nach allem
der ersten Epoche Wilhelm II., dem Deutschland des „neuen
han¬
Neuen. Den Schafsenden steht eine wirksamere Technik des Erfolges
Kurses“ und einer innerlich hohlen Kultur. Ein Deutschland, das
blei¬
zur Ver ügung und bei keinem der unter uns Lebenden ist eine
den Geist verriet und in einer jadenscheinigen Romantik des
er Be¬
allzu späte, ja eist posthume Berü mtheit zu beklagen. Allerdings
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