I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 46

30.
Casanovas Heimfahrt
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18888888888 Dr. Paul Weiglin: Neues vom Büchertisch B88s 105
teuern und Geheimnissen verzitterte. Er erkennt, betrachtet sie ihn mit Grausen. Er
weiß, daß er alt ist. Er kennt die Runzeln
selbst erblickt sich mit nüchternen Augen als
seiner Stirn, die Falten des Halses, die tiefen
den alten Mann, der er ist. List hat sich
Rinnen, welche von den Augen den Schläfen
gegen Vertrauen, Lust gegen Liebe, Alter
zu führen; ein Eckzahn fehlt ihm; seine ma¬
gegen Jugend namenlos und unsühnbar ver¬
geren Hände tragen blaugeschwollene Adern;
gangen. Wortlos schwingt sich Casanova
die Nägel seiner kralligen Finger sind durch
aus dem Fenster ins Freie. Dort erwartet
kleine gelbe Flecken entstellt. All das weiß
ihn Lorenzi, den er im Zweikampf tötet.
er, und wahnsinnig erscheint es ihm, daß
Dann fährt er eilend heim nach Venedig,
Amalie in ihm immer noch den Geliebten
und als er dort in einer Kneipe die Kunde
ihrer Jugend sieht, fast so närrisch, wie daß
vernimmt, daß ein Offizier aus Mantua
er Marcolina besitzen will. Aber er muß
umgebracht worden sei, ist ihm zumute, als
sie in die Arme schließen und versteigt sich
ginge ihn die Sache nichts an, ja, er fühlt
in seiner Tollheit zu dem Versprechen, der
sich von einer Unruhe befreit.
Geliebten von ehedem eine zärtliche Stunde
Schon die knappe Inhaltsangabe läßt er¬
zu schenken, wenn sie ihm Marcolina ge¬
kennen, wieviel Unerquickliches diese Novelle
winnen helfe. Das kann Amalie nicht.
bietet. Es fehlt auch nicht an ekelhaften
Marcolina ist tugendhaft, und grade ihre
Auftritten, wie der Verführung der drei¬
Herbheit und Keuschheit reizen Casanova.
zehnjährigen Tochter Olivos, womit sich in
Er genießt vor ihr Augenblicke der Andacht,
fast possenhafter Wirkung die Manneskraft
der Hingegebenheit ohne jedes Verlangen.
Casanovas im dritten Geschlecht erprobt.
Sie soll ihn jung machen, und er beschwört
Gänzlich unbefriedigend ist der Schluß, der
seinen einst unwiderstehlichen Zauber, ohne
den alten Abenteurer in derselben Verfassung
ihre kühle und spöttische Überlegenheit zu
zeigt wie der Anfang der Novelle. Man
brechen. Er muß erkennen: seine Macht ist
glaubt nicht recht, daß diese so beschämend
dahin; nur wo er Erinnerung bedeutet, ver¬
verlaufene Liebesgeschichte die tragische letzte
mag sein Wort, seine Stimme, sein Blick
war. Die geschlechtlichen Bedürfnisse Casa¬
noch zu bannen; seiner Gegenwart ist die
novas sind meisterhaft geschildert, und ein
Wirkung versagt; vorbei ist seine Zeit.
Arzt, der sich mit der Seelenkunde krankhaft
Ein Nebenbuhler erscheint, Lorenzi, ein
erregter Menschen befaßt, wird an Schnitz¬
Offizier. In ihm tritt Casanova sein eige¬
lers Beobachtungskunst seine Freude haben.
nes Bild, um dreißig Jahre verjüngt, ent¬
Andere Leser jedoch werden ihr Urteil über
gegen, und erschauernd fragt er sich: „Bin
Casanova weniger gelehrt als volkstümlich¬
ich etwa in seiner Gestalt wiedergekehrt?
derb dahin zusammenfassen, daß sie ihn für
Da müßte ich doch vorher gestorben sein ...“
einen alten Bock erklären. Und wer das
Und es durchbebt ihn: „Bin ich's denn nicht
sagt, braucht nicht einmal vor den zahl¬
seit lange? Was ist denn noch an mir von
reichen Schönheiten der Novelle die Augen
dem Casanova, der jung, schön und glücklich
zu schließen. Der Zweikampf der beiden
war?“ Vor den Augen der Welt hat Mar¬
nackten Männer im Garten etwa prägt sich
colina die Bewerbung des jungen Offiziers
dem Gedächtnis unauslöschlich ein, und mit¬
abgewiesen; er tröstet sich offenbar in der
dem Helden stehen wir wie vor einem ver¬
Liebschaft mit einer Marchesa, deren Gatte
lorenen Paradies, als sein Name, von einer
den Ehebruch mit grollendem Selbstspott
schweigenden und unsichtbaren Klosterfrau
duldet. Aber in Wirklichkeit steht Marcolina
ausgerufen, zum erstenmal mit dem vollen
mit Lorenzi im innigsten Einverständnis.
Klang der Liebe an sein Herz dringt. Auch
Casanova bemerkt, wie sich der glückliche
Schnitzlers erlesene Sprachkunst zeigt sich in
Liebhaber des Nachts aus dem Fenster der
dieser Novelle in dem ihr eigentümlichen
mathematischen Schönen stiehlt. Was ist
matten, aber edlen Glanz. Die ebenmäßig
das für ein Gott, der nur den Jungen hold
gebauten Sätze atmen eine gebändigte Lei¬
ist und die Alten im Stich läßt? So wird
denschaft. Unser Deutsch, das so gern regel¬
ihm dieses Erlebnis zu einer Probe auf die
los wuchert, ist in eine strenge Pflege ge¬
Gerechtigkeit der Weltordnung; er muß
nommen. Man könnte manchmal glauben,
Marcolina besitzen.
eine gute Übersetzung aus dem Französischen
Vorsichtig geht er zu Werke, und ein Zu¬
zu lesen, und damit treffen wir auf das,
fall kommt ihm zu Hilfe. Lorenzi ist eine
was dieser Novelle wohl den Weg zu un¬
Ehrenschuld gegen den Marchese eingegangen.
serm Verstand und unserer Bewunderung,
Er stürzt ins Verderben, wenn er den rach¬
aber schwerlich zu unserem Herzen und unsrer
durstigen Alten nicht befriedigen kann. Ca¬
Liebe öffnet: es ist ein Erzeugnis aus zweiter
sanova erbietet sich als Retter, doch er ver¬
Hand, Literatur über Literatur.
langt dafür eine Nacht bei Marcolina. Lorenzi
Einen ausgezeichneten novellistischen Vor¬
ergibt sich in die harte Bedingung. Casa¬
wurf hat sich Peter Bergell erkoren, als
nova schleicht sich nackt, nur mit dem Mantel
er die „Linke Landgräfin schrieb, das
des Offiziers bekleidet, zu der Geliebten, er¬
heißt die Geschichte der Doppelehe Philipps
fährt das beseligende Gefühl der Erfüllung
des Großmütigen von Hessen. Der Ver¬
und wähnt, daß der Betrug in den namen¬
fasser hat die in Marburg vergessen ruhen¬
losen Entzückungen dieser Nacht zur Wahr= den Briefe des Reformationsfürsten gehoben,
heit geworden sei. Aber als Marcolina ihn und ihre urwüchsige Kraft und treuherzige