Stoffkreises bilden, vermögen in der erzählenden Form weit
mehr Überzeugungskraft anzunehmen als im Drama. Schon
die Herkunft der meisten Schnitzlerschen Schauspiele aus
dem strengsten und auch engumgrenzten Subjektivismus ergibt
für seine Art ein Hinneigen zur Darstellung von Zu¬
ständen gegenüber jener nackter Wirkungen. Nicht die Tat,
die Wirkung, sondern Tatumstände, Möglichkeiten, Re¬
flexionen sind das Lockende. Er zerlegt mehr, als er aufbaut.
Auch die jüngste Erzählung enthüllt. Die Menschen erleben
nicht ihre Schicksale in dieser Novelle; diese liegen fast ab¬
geschlossen hinter ihnen. Der Dichter zerlegt die seelische Er¬
scheinung und Verfassung eines eben alt werdenden
Mannes; es hat natürlich tiefere Bedeutung, daß er ihn
Lloydarzt sein läßt, der die Welt bereist hat. Er zeigt
eine seiner Lieblingsgestalten, einen vom Leben müden,
verbrauchten, nicht enttäuschten, aber, was ärger lastet,
ernüchterten, ausgehöhlten Überkultivierten. Dr. Gräsler hat,
wie man zu sagen pflegt, die Üiberfuhr versäumt. Er ist nicht
mehr jung, aber noch weniger schon alt. Stets in Banden
von Frauen, hat er nicht geheiratet, eigentlich keinen tieferen
Eindruck empfangen. Leidenschaften ohne Aufschwung und
Klärungen. Er lebte mit seiner aufopfernden Schwester,
die gleich ehm einsam und unbefriedigt zu sein schien, in
gemeinsamer Haushaltung, bis ihr plötzlicher Tod äußerlich
diese=Ordnung aufhebt. Nun beginnt die ganze Tätigkeit
des Badearztes — im Winter auf der Insel Lanzarote, im
Sommer in einem kleinem Badeorte des deutschen Mittel¬
gebirges — keinen Sinn und Boden mehr zu haben. Ein
seelisches Beben erschüttert die Gemütslage Dr. Gräslers.
Und dann ist er eben auch in dem gewissen Alter, da der
Mann das Land der Jugend aus den Augen verliert
und ander: Ankergrund nicht findet. In diesem
seelischen Zustande lernt er im Badestädtchen ein
Mädchen kennen, das ihn fesselt, das er achten und, wie er¬
wähnt, auch lieben lernt. Unfähig zu einer Willensäußerung,
läßt er sich den Augenblick entgehen, sie an sich zu binden,
wie er den Ankaus eines angebotenen Sanatoriums ver¬
säumt. Durch einen entscheidenden Brief des Mädchens, der
ihm jede aktive Entschließung abnimmt, fühlt sich der über¬
empfindliche Willenlose beengt, beunruhigt, jar be¬
droht; er reist ab, das heißt, er flieht und reißt damit
das Band, das ihn auf beruhigender, reinlicher und
bürgerlicher Lebensstraße dem Alter zuführen würde.
Frauen von gefälliger Zugänglichkeit, die Männer
vom Schlage dieses Dr. Gräsler immer zum Schicksale
werben, treten in seinen Lebenskreis. Vom Stelldichein
einer Ladenmamsell — Typus: süßes Mädel — wird er
zum Krankenbett eines Kindes einer jungen, anziehenden
Witwe nicht ganz geklärten Rufes geholt. Er gerät in Emp¬
findungen, die ihn schwanken machen zwischen der halb er¬
klärten Braut und der vorübergehenden Geliebten. Er verliert
die eine, ohne die andere gewinnen zu können. Das Motiv
Schnitzlers von der tötenden Liebe wird auch hier ein¬
geflochten; vom scharlachkranken Kind übertrug Gräsler den
Todeskeim auf die Geliebte. Die Mutter des von ihm geretteten
Kindes, die junge Witwe, wird nun seine Lebensbegleiterin.
Die Erzählung bringt keinerlei neue Seite im Schaffen des
Dichters zutage. Der Mann mit den drei Frauen, der
übliche seelische Konflikt, der sich im wesentlichen von
anderen Schnitzlerschen Liebeshandlungen wenig unter¬
scheidet, ist nicht gerade zwingend; es widerfährt Dr. Gräsler,
daß er in seinen herbstlichen Liebestrieben sogar leer und
nichtig anmutet. Die rein literarische Kunst, die an das
Buch gesetzt wurde, die artistischer Qualitäten des Werkes
dichterische Anschauung, darstellesische Anmut, feinnerviges
Empfinden, eFreuen
R. Ir.
RR M
29.
Doktor
raesler
Badearzt
box 4/9
# un an. a. n. K. C. G n aen an d. Fne uen aen un de 1. de.
Jreé Steller
Te
ien.191.
Geeuse.
AL. vu. 1
Opedl. 9 12
Arthur Schnitzler: Doktor Gräsler, Bedearzt.
Erzählung. (S. Fischer, Verlag, Berlin. Das neue
Buch Schnitzlers könnte auch -Der Mann von
fünfzig Jahrens heissen. Es ist die Geschichte des
männlichen Herbstes. Dr. Gräsler, der nur in
jüngsten Jahren jung war und deshalb alt gewor¬
den zu sein glaubt, drängt sich mit einem Mal
wieder an das Leben und die Liebe heran, ängst¬
lich und ohne Selbstvertrauen dort, wo ihm ed¬
les, sanftes Entgegenkommen wird, aufflackernd
und gierig im Abenteuer mit einem jungen Ding
(dem typischen ssüssen Mädele Schnitzlers) und
endlich müd-glückhafter Freier rundlicher Wit¬
wenreife. Ein eitler Pedant, ein Philister und
Egoist ist dieser Doktor Gräsler, unwürdig des
hochherzig seelenvollen, fraulichen Mädchens,
tödlich in der späten Glut an unbekümmerter Ju—
gendlichkeit entzündeter Leidenschaftlichkeit. Ne¬
ben ihm wird selbst das Bild seiner Schwester
beinahe rührend, die hinter der Maske altbürger¬
licher Wohlanständigkeit das Leben einer Ko¬
kotte lebte und den Tod suchte, als sie keinen
Mann mehr anzog. Schnitzlersche Meisterschäft
zeichnete diese Sünderin. Hohe Kunst des Erzäh¬
lens, vollendete psychologische Feinarbeit machen
das jüngste Werk Schnitzlers zu einem wert¬
vollen. Der Stoff jedoch dürfte für ihn damit ge¬
wiss noch nicht endgültig erledigt sein. Vielleicht
bege nen wir bald einem Schauspiel, in dem uns
der Arzt und Poet über den Mann von fünfzig
Jahren das sagt, was nur Schnitzler, der selbst
kaum über dieses Alter hinaus ist, unerreichbar
vor allem im Wie, sagen könnte.
loh ½" Doul Gchbeingar
und 47
G
mehr Überzeugungskraft anzunehmen als im Drama. Schon
die Herkunft der meisten Schnitzlerschen Schauspiele aus
dem strengsten und auch engumgrenzten Subjektivismus ergibt
für seine Art ein Hinneigen zur Darstellung von Zu¬
ständen gegenüber jener nackter Wirkungen. Nicht die Tat,
die Wirkung, sondern Tatumstände, Möglichkeiten, Re¬
flexionen sind das Lockende. Er zerlegt mehr, als er aufbaut.
Auch die jüngste Erzählung enthüllt. Die Menschen erleben
nicht ihre Schicksale in dieser Novelle; diese liegen fast ab¬
geschlossen hinter ihnen. Der Dichter zerlegt die seelische Er¬
scheinung und Verfassung eines eben alt werdenden
Mannes; es hat natürlich tiefere Bedeutung, daß er ihn
Lloydarzt sein läßt, der die Welt bereist hat. Er zeigt
eine seiner Lieblingsgestalten, einen vom Leben müden,
verbrauchten, nicht enttäuschten, aber, was ärger lastet,
ernüchterten, ausgehöhlten Überkultivierten. Dr. Gräsler hat,
wie man zu sagen pflegt, die Üiberfuhr versäumt. Er ist nicht
mehr jung, aber noch weniger schon alt. Stets in Banden
von Frauen, hat er nicht geheiratet, eigentlich keinen tieferen
Eindruck empfangen. Leidenschaften ohne Aufschwung und
Klärungen. Er lebte mit seiner aufopfernden Schwester,
die gleich ehm einsam und unbefriedigt zu sein schien, in
gemeinsamer Haushaltung, bis ihr plötzlicher Tod äußerlich
diese=Ordnung aufhebt. Nun beginnt die ganze Tätigkeit
des Badearztes — im Winter auf der Insel Lanzarote, im
Sommer in einem kleinem Badeorte des deutschen Mittel¬
gebirges — keinen Sinn und Boden mehr zu haben. Ein
seelisches Beben erschüttert die Gemütslage Dr. Gräslers.
Und dann ist er eben auch in dem gewissen Alter, da der
Mann das Land der Jugend aus den Augen verliert
und ander: Ankergrund nicht findet. In diesem
seelischen Zustande lernt er im Badestädtchen ein
Mädchen kennen, das ihn fesselt, das er achten und, wie er¬
wähnt, auch lieben lernt. Unfähig zu einer Willensäußerung,
läßt er sich den Augenblick entgehen, sie an sich zu binden,
wie er den Ankaus eines angebotenen Sanatoriums ver¬
säumt. Durch einen entscheidenden Brief des Mädchens, der
ihm jede aktive Entschließung abnimmt, fühlt sich der über¬
empfindliche Willenlose beengt, beunruhigt, jar be¬
droht; er reist ab, das heißt, er flieht und reißt damit
das Band, das ihn auf beruhigender, reinlicher und
bürgerlicher Lebensstraße dem Alter zuführen würde.
Frauen von gefälliger Zugänglichkeit, die Männer
vom Schlage dieses Dr. Gräsler immer zum Schicksale
werben, treten in seinen Lebenskreis. Vom Stelldichein
einer Ladenmamsell — Typus: süßes Mädel — wird er
zum Krankenbett eines Kindes einer jungen, anziehenden
Witwe nicht ganz geklärten Rufes geholt. Er gerät in Emp¬
findungen, die ihn schwanken machen zwischen der halb er¬
klärten Braut und der vorübergehenden Geliebten. Er verliert
die eine, ohne die andere gewinnen zu können. Das Motiv
Schnitzlers von der tötenden Liebe wird auch hier ein¬
geflochten; vom scharlachkranken Kind übertrug Gräsler den
Todeskeim auf die Geliebte. Die Mutter des von ihm geretteten
Kindes, die junge Witwe, wird nun seine Lebensbegleiterin.
Die Erzählung bringt keinerlei neue Seite im Schaffen des
Dichters zutage. Der Mann mit den drei Frauen, der
übliche seelische Konflikt, der sich im wesentlichen von
anderen Schnitzlerschen Liebeshandlungen wenig unter¬
scheidet, ist nicht gerade zwingend; es widerfährt Dr. Gräsler,
daß er in seinen herbstlichen Liebestrieben sogar leer und
nichtig anmutet. Die rein literarische Kunst, die an das
Buch gesetzt wurde, die artistischer Qualitäten des Werkes
dichterische Anschauung, darstellesische Anmut, feinnerviges
Empfinden, eFreuen
R. Ir.
RR M
29.
Doktor
raesler
Badearzt
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Jreé Steller
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Opedl. 9 12
Arthur Schnitzler: Doktor Gräsler, Bedearzt.
Erzählung. (S. Fischer, Verlag, Berlin. Das neue
Buch Schnitzlers könnte auch -Der Mann von
fünfzig Jahrens heissen. Es ist die Geschichte des
männlichen Herbstes. Dr. Gräsler, der nur in
jüngsten Jahren jung war und deshalb alt gewor¬
den zu sein glaubt, drängt sich mit einem Mal
wieder an das Leben und die Liebe heran, ängst¬
lich und ohne Selbstvertrauen dort, wo ihm ed¬
les, sanftes Entgegenkommen wird, aufflackernd
und gierig im Abenteuer mit einem jungen Ding
(dem typischen ssüssen Mädele Schnitzlers) und
endlich müd-glückhafter Freier rundlicher Wit¬
wenreife. Ein eitler Pedant, ein Philister und
Egoist ist dieser Doktor Gräsler, unwürdig des
hochherzig seelenvollen, fraulichen Mädchens,
tödlich in der späten Glut an unbekümmerter Ju—
gendlichkeit entzündeter Leidenschaftlichkeit. Ne¬
ben ihm wird selbst das Bild seiner Schwester
beinahe rührend, die hinter der Maske altbürger¬
licher Wohlanständigkeit das Leben einer Ko¬
kotte lebte und den Tod suchte, als sie keinen
Mann mehr anzog. Schnitzlersche Meisterschäft
zeichnete diese Sünderin. Hohe Kunst des Erzäh¬
lens, vollendete psychologische Feinarbeit machen
das jüngste Werk Schnitzlers zu einem wert¬
vollen. Der Stoff jedoch dürfte für ihn damit ge¬
wiss noch nicht endgültig erledigt sein. Vielleicht
bege nen wir bald einem Schauspiel, in dem uns
der Arzt und Poet über den Mann von fünfzig
Jahren das sagt, was nur Schnitzler, der selbst
kaum über dieses Alter hinaus ist, unerreichbar
vor allem im Wie, sagen könnte.
loh ½" Doul Gchbeingar
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