I, Erzählende Schriften 29, Doktor Gräsler, Badearzt, Seite 78

29.
oktor Graesle
Badearz
box 4/9
det
Tiefste Tragik ist dort, wo keine Schuld festzustellen ist; in
diesem Sinne ist die Entwicklung und in ihr die Menschheit höchst
tragisch. Das ist letzte Tragik, daß man für Schuld Entwicklung,
für Entwicklung Schuld sagen kann, und daß Schuld sich mit Ent¬
wicklung so vollkommen deckt, daß von jener kein Rest übrig bleibt;
und daß die Entwicklung, weil sie seelenlos ist, unter der Last
dieser Schuld nicht zusammenbricht, sondern immer weiter geht.
Tragik ist, daß die dumpfe, dickhäutige, seelenlose Welt ihre Tragir
nicht empfindet. Man muß sich letzten Endes an Gott halten, als
an einen ganz großen Tragiker, der die Menschen durch eine ver¬
dorbene Welt und ein schlechtes Leben führt, weil er mit ihnen
noch Großes vorhat.
Wenn ich nicht wüßte, wie unfruchtbar, ja, verderblich es ist,
den Nächsten anzuklagen, wo eine viel größere ungreifbare Schuld
im Prinzip, im Ganzen, in der Entwicklung liegt; wenn es mir
nicht widerstrebte, mit dem Finger auf die Andern zu zeigen, und
wären wir auch weiß wie die Unschuld (die, übrigens, opferfroh,
die ganze Schuld lieber auf sich nimmt, als pharisäerhaft anzu¬
klagen); wäre ich nicht eingedenk, daß man nicht in die Ferne zu
schweifen braucht, wenn das Schlechte so nahe liegt: ich würde:
sagen, daß England, Frankreich, Amerika ungeheure Schuld vor
der Menschheit zu verantworten hat.
Doktor Gräsler, Badearzt von Hans Wantoch
(Dieses letzte und unkomplizierteste Buch Arthur Schnitzlers (im
— Verlag von S. Fischer) ist eines der feinsten und künstlerisch¬
sten Werke des Dichters. Es heißt zwar: „Doktor Gräsler, Bade¬
arzt', aber es hat mehr Naturgeruch als Weltkurortparfüm, mehr
Erdschwere und menschliches Gewicht als spielerische Geistigkeit und
jonglierenden Esprit, der, bei Schnitzler oft und zu oft, durch
Vielfalt und spektrale Zerlegung eine Bedeutsamkeit vorgibt, wo
nur eine Nichtigkeit vorliegt. „Doktor Gräsler, Badearzt“ ist eine
Visitenkarte und kein Plakat, es bezeichnet keine menschliche Spezies
(verwandt etwa in Schnitzlers Welt dem Hoteldirektor des „Weiten
Land“), sondern zeigt einen Menschen an, der in Schnitzlers
Deuvre ein Einziger und Eigener ist und ziemlich breitspurig auf
seinen besondern, etwas dicken, etwas plumpen Beinen dasteht.
Die Hosen um diese Beine stelle ich mir sogar ohne Bügel¬
falten, ziemlich schlapp und korkzieherhaft vor, denn es ist wahr¬
haftig niemand da, der sich um Doktor Gräslers Hosensitz kümmern
sollte. Die Schwester, die ihm die Wirtschaft führte, und,
still, für sich, ein wenig altjüngferlich und lawendelduftend, ihr
eigenes Leben einer heimlichen Kokotte lebte, hat, als der letzte
273
SAadut,
22