29.
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raesl
Badear
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Kuß auf den heißen Lippen verglühte, das Licht des Daseins selbst
verlöscht, und Doktor Gräsler wandert nun, schwerfällig und
stapfend, die andre, die sinistre Seite des Berges seinen einsamen
Weg abwärts, der in ungewisse, gleichgültige Leere zu führen
scheint und unvermutet in abenteuerliche Fülle dreifacher Liebe,
dreifachen Werbens und Umworbenseins gerät.
Diese Ueberschneidung verwandter und nicht identischer Ge¬
fühle wäre „Schnitzler“ (mit Gänsefüßen), wäre Koketterie mit
der eigenen Psychologenkunst, wenn das Wirrsal zugleich Wirr¬
seligkeit wäre, mit sentimentalen Achs und Ochs und faulem
Stimmungszauber und nicht eher halb skeptischer, halb apathischer
Fatalismus eines Bequemlings, der nie ein Herr von Sala und
ein Schlürfer und Auskoster absonderlich gemischter Liebes=Coaktails
war, sondern — jenseits der Jahre mehr denn je — ein etwas
dumpfer und etwas stumpfer, etwas verfetteter und etwas geruh¬
samer Muskelmensch ist, mit der Alterserscheinung einer seelischen
Arteriosklerose, die man gemeinhin Egoismus nennt.
Doktor Gräslers Charakter hat mehr Greifbares als Imagi¬
näres, weniger Zerebrum als Fett, oder, um es Schnitzlerisch zu
sagen, mehr Haltung ols Geist, obwohl das Manko an diesem
keineswegs durch eine Hypertrophie an jener hervorgerufen ist.
Doktor Gräsler ist eine durchaus animalische und vegetative, un¬
problematische und unmondaine Natur. In dem Sommerbade¬
ort, in dem er ordiniert, liegt wohl nicht einmal eine Fremden¬
liste auf. Und die drei Frauen, in deren Leben er, und die in
sein Leben verstrickt werden, sind unkostbar und unzerlegt wie er,
keine Schnitzler=Weiber, denen statt der Haut das Nessusgewand
eines Ueber= oder Ober=Nervensystems übers Fleisch gewachsen ist;
sie sind sehr einfache, simple undtsellose Exemplare der species
femininae. Sabine, die Reine, Katharina, die Kleine, und Frau
Sommer, die am Ende die Seine wird, während Sabine am frühe¬
sten aus Gräslers Leben und unsrer Lektüre verschwindet, aber
am längsten im Gedächtnis haftet.
Katyarina also wäre, nur aus dem Wienerischen in schärfer¬
kantiges und weniger picksüßes Norddeutsch transponiert, die
Schlager=Mizzi, die von der Plattform einer zufälligen Straßen¬
bahnbegegnung über ein Theaterfauteuil unters Bett=Tuch schlüpft
wenn sie eben nicht durchaus Katharina wäre, ein braver, tap¬
ferer, unbesinnlicher Kamerad von acht Tagen und ebensovielen
Nächten, der sich nach abermals acht Tagen, von Scharlachbazillen
tödlich infiziert, lautlos und unbemerkt aus dem Staub und aus
dem Leben macht. Katharina stirbt nicht durch sich und nicht an
Gräsler, und doch durch ihn, denn Gräsler schleppt den Ansteckungs¬
bazillus aus der Krankenstube von Frau Sommers Töchterchen im
ersten Stock in sein und Katharinas Schlafzimmer im zweiten
Stock, und dies ist, Gott sei Dank, bei dem neuen Schnitzler (im
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Kuß auf den heißen Lippen verglühte, das Licht des Daseins selbst
verlöscht, und Doktor Gräsler wandert nun, schwerfällig und
stapfend, die andre, die sinistre Seite des Berges seinen einsamen
Weg abwärts, der in ungewisse, gleichgültige Leere zu führen
scheint und unvermutet in abenteuerliche Fülle dreifacher Liebe,
dreifachen Werbens und Umworbenseins gerät.
Diese Ueberschneidung verwandter und nicht identischer Ge¬
fühle wäre „Schnitzler“ (mit Gänsefüßen), wäre Koketterie mit
der eigenen Psychologenkunst, wenn das Wirrsal zugleich Wirr¬
seligkeit wäre, mit sentimentalen Achs und Ochs und faulem
Stimmungszauber und nicht eher halb skeptischer, halb apathischer
Fatalismus eines Bequemlings, der nie ein Herr von Sala und
ein Schlürfer und Auskoster absonderlich gemischter Liebes=Coaktails
war, sondern — jenseits der Jahre mehr denn je — ein etwas
dumpfer und etwas stumpfer, etwas verfetteter und etwas geruh¬
samer Muskelmensch ist, mit der Alterserscheinung einer seelischen
Arteriosklerose, die man gemeinhin Egoismus nennt.
Doktor Gräslers Charakter hat mehr Greifbares als Imagi¬
näres, weniger Zerebrum als Fett, oder, um es Schnitzlerisch zu
sagen, mehr Haltung ols Geist, obwohl das Manko an diesem
keineswegs durch eine Hypertrophie an jener hervorgerufen ist.
Doktor Gräsler ist eine durchaus animalische und vegetative, un¬
problematische und unmondaine Natur. In dem Sommerbade¬
ort, in dem er ordiniert, liegt wohl nicht einmal eine Fremden¬
liste auf. Und die drei Frauen, in deren Leben er, und die in
sein Leben verstrickt werden, sind unkostbar und unzerlegt wie er,
keine Schnitzler=Weiber, denen statt der Haut das Nessusgewand
eines Ueber= oder Ober=Nervensystems übers Fleisch gewachsen ist;
sie sind sehr einfache, simple undtsellose Exemplare der species
femininae. Sabine, die Reine, Katharina, die Kleine, und Frau
Sommer, die am Ende die Seine wird, während Sabine am frühe¬
sten aus Gräslers Leben und unsrer Lektüre verschwindet, aber
am längsten im Gedächtnis haftet.
Katyarina also wäre, nur aus dem Wienerischen in schärfer¬
kantiges und weniger picksüßes Norddeutsch transponiert, die
Schlager=Mizzi, die von der Plattform einer zufälligen Straßen¬
bahnbegegnung über ein Theaterfauteuil unters Bett=Tuch schlüpft
wenn sie eben nicht durchaus Katharina wäre, ein braver, tap¬
ferer, unbesinnlicher Kamerad von acht Tagen und ebensovielen
Nächten, der sich nach abermals acht Tagen, von Scharlachbazillen
tödlich infiziert, lautlos und unbemerkt aus dem Staub und aus
dem Leben macht. Katharina stirbt nicht durch sich und nicht an
Gräsler, und doch durch ihn, denn Gräsler schleppt den Ansteckungs¬
bazillus aus der Krankenstube von Frau Sommers Töchterchen im
ersten Stock in sein und Katharinas Schlafzimmer im zweiten
Stock, und dies ist, Gott sei Dank, bei dem neuen Schnitzler (im
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