I, Erzählende Schriften 29, Doktor Gräsler, Badearzt, Seite 80

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Doktor Graesler
Badearzt
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Gegensatz zum alten) die einzige innere wie äußere, seelische wie
sachliche Beziehung in den zwei „Lieben“ Doktor Gräslers, die
mehr nach einander als neben, in und durch einander verlaufen.
Es soll nicht geleugnet werden, daß Frau Sommer einiges und
so manches zugunsten einer zeitlichen Vorwärtsschiebung tut und
gegen ein erotisches Doppelspiel nichts einzuwenden hätte; aber
Schnitzler hütet sich und uns vor einer Neuauflage des „Wegs
ins Freie', des „Grünen Kakadus und etlicher andrer „Komödien
der Worte und Gefühle. Er will größere Strichführung, reinere
Umrißlinien als sonst, und er hat sie für diesmal am reinsten
und größten in der Zeichnung Sabinens gegeben, die ich, wenn
Ernst Graf Reventlow nicht wäre eine deutsche Frauengestalt
nennen würde. Groß, blond, breitflächig und starkgliedrig an Leib
und Seele. Mit schmalen schweigsamen Lippen, die einfache
Worte sagen, und von denen ein „Gute Nacht, Herr Doktor!“ tiefer,
bedeutsamer und ergreifender klingt als Koseworte und Liebes¬
wünsche von den Lippen andrer. Mit schönen festen Händen, die
zu halten verstünden, aber nicht zuzugreißen verstehen. Sie ruht
so voll und ganz in sich, daß sie nicht oder nur schwer aus sich
heraustreten kann. Sie nähert sich frei und ohne alle Herkömm¬
lichkeit an Gräsler an und sieht sich stehen gelassen vor dem schwer
zu öffnenden Tor seiner Trägheit und zieht sich rasch in sich zurück
und ist kein zweites Mal zu keiner zweiten Erschließung ihres
Wesens zu bewegen; sei es aus Erkenntnis ihrer Vollnatur, die
keine Ergänzung braucht und verträgt, sei es aus Gram, sei es
aus Scham, diesem wundervollen Trotz der Seele.
Sabine ist! Sie steht rund und plastisch in diesem Buch und
weist doch darüber hinaus in Andres und Neues. Diese Ver¬
zichterin läßt wieder für Schnitzlers Zukunft hoffen, den man zu¬
letzt ungern und mit schmerzlicher Wehmut an die Analyse die
Zersetzung und Atomisierung seiner eigenen Vergangenheit ver¬
loren sah. Was er geschaffen hatte, dünkte uns nichtig, als er es
in noch zerlegtern, verzweigtern und verästeltern Exemplaren aber¬
und abermals schuf. Ueber den letzten Seelenschemen und Zere¬
bralgerippen vergaß man der frühern Menschen von Fleisch und
Blut, die am Ende doch unsre Brüder, unsre Schwestern waren,
und deren Geschick uns in Mitleidenschaft und Mitfreudenschaft
gezogen hatte. Das letzte Buch Arthur Schnitzlers ist ein Anfang:
so wie Sabine schreiten ird'sche Weiber!
Rodrigo und Arragon von Eugen Kilian
Zwei traditionelle Theatersünden
(E in weiser Kunstrichter hat einmal in einer Aufführung des
„Kaufmanns von Venedig“ die Szene vermißt, wo Shylock
nach Jessikas Entführung sein verödetes Heim betritt und in Ver¬
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