I, Erzählende Schriften 29, Doktor Gräsler, Badearzt, Seite 89

Badearzt
29. Doktor Graesler
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Das Litterarische Sche, Berlin
Kurze Anzeigen
Romane und Erzählungen
Doktor Gräsler, Badearzt. Erzählung. Von Arthur
ir. 1917, S. Fischer. M. 3,— (4.—).
Schr
—Wenn das Alter, wie so oft gesagt worden, einem
klaren Bergsee gleicht, der, ein ungetrübter Spiegel, ge¬
stilltere äußere Vorgänge im Wechsel mit beruhigteren
seelischen Forderungen zeigt, so scheint solchem See ein
Zauberwald vorgelagert zu sein, den der Alternde zu¬
nächst zu durchschreiten hat und in dem ihn letzter Heren¬
wahn beängstigt.
In diesem Zauberwald findet sich Doktor Gräsler,
Badearzt. Drei Frauen treten ihm entgegen und werben
um ihn, jede in ihrer Art. Mit seelischem Freimut die
eine, derart, daß ihre Werbung zu strahlender Offen¬
barung einer vornehmen und sellenen, höchst begehrens¬
werten Persönlichkeit wird; mit naiver, sehr reizender
Sinnlichkeit die andere; mit berechneter Verführungskunst
die dritte, und natürlich ist sie es, die der Gealterte mit
sich führt. Wohin? Zu dem Bergsee?
Der in den Strudel dieser Wirrnisse gelangt, Doktor
Gräsler, Badearzt, benimmt sich darin, wie der Kork
im Wasser. Vielleicht ist es künstlerische Absicht, oder
es ist, wie immer bei Schnitzler, ein Übermaß an Psycho¬
logie, das die Schärfe der Profilkonturen beeinträchtigt,
zu stark individuellem Eindruck gelangt man nicht.
Doktor Gräsler, Badearzt, ist nur Typus. Der Typus
des Gealterten, dem sein Beruf zur Gewöhnung gewor¬
den; der an manchen lauen Erlebnissen Opferfreudigkeit
und Glauben verlor; der keine Entschlußkraft besitzt;
der mit der Skepsis des Schwachsichtigen die Augen
überanstrengt, zu sehen, was nicht da ist, und nicht zu
gewahren, was sehr hold am Wege blüht.
In der etwas verschwommenen Gestalt des Doktor
Gräsler ist die Galerie literirischer Philisterporträts immer¬
hin um eine bemerkenswerte Nummer bereichert worden.
Man ermißt an diesem Bilde, wie groß die Kunst
des Erzählers ist. Denn dieser Doktor Gräsler ist nun
freilich ein Gleichgültiger. Man möchte an ihm vorüber.
Und kann es nicht. Man sieht sich an jedem Kilometer¬
stein des seelischen Ganges genötigt, diesen Gealterten,
Feigen, Erbärmlichen von sich abzuschütteln, sich von der
eigenen Verachtung Rechenschaft abzulegen — und gelangt
dazu, ihn immer tiefer zu begreifen, an ihm sich selber
zu richten, in ihm sich selber das Verdammungsurteil zu
sprechen. Sehr groß ist die Kunst des Erzählers.
Man fühlt sich im Bann einer rein innerlichen Span¬
nung, der man sich aus seelischem Reinlichkeitsbedürfnis
entziehen möchte, und die statt dessen zunimmt.
Aber dann steht man am Ende. Das Ganze wieder
überblickend, fragt man sich, ob die erzielte Wirkung
mit den aufgewandten künstlerischen Mitteln in Einklang
steht. Von einem gewissen literarischen Standpunkt aus
wird man die Frage bejahen. Zweifellos kann es künft¬
lerischer Selbstzweck sein, durch Eingehen in philiströse
Sphären dem Menschen sein philisterhaft Erbteil im Blut
zu Bewußtsein zu bringen, und ich wüßte nicht, wie
das in vollendeterer Weise geschehen sollte, als es hier
gegeben ist. Die neue Sehnsucht unserer Tage aber
würde dem gleichen Thema andere künstlerische Bewälti¬
gung wünschen. Kein Eingehen in die Philistersphäre;
vielmehr eine Schilderung der Temperamentlosigkeit aus
dem Temperament heraus; ein Blick vom Berg ins
Tal, so daß der Philister nicht mehr seelischer Genosse
bliebe, sondern wieder zu romantischem Spuk würde.
Diese Sehnsucht nun freilich wiese über Doktor Gräsker,
Badearzt, hinaus. Auch über Arthur Schnitzler?
Ernst Heilborn
Berlin
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Minister waren. Am ungünstigsten über den Inspirator der Hohenwart'schen
Experimente, über den Professor Dr. Schäffle. Der Dilettant, der mit selbst¬
sicherer Entschlossenheit in das österreichische Problem hineintaucht, hat sich
seither noch öfters im politischen Leben gezeigt. Damals war viese Rolle neu.
Man fühlt sich zeitgenössisch angemutet, wenn man in den hochtrabenden Pro¬
grammen und Außerungen seines Kabinetts die Fülle der Reformen bis zum
allgemeinen Wahlrecht liest, durch die Österreich rasch gerettet werden sollte.
Unbedenklicher, übrigens im letzten Augenölick zurückschreckender Dilettantismus
oder zuversich iche Temperamentlosigkeit lösten sich späterhin immer mehr ab.
Regent am Ministerhimmel wurde das Taaffe'sche System, auch nach Taaffe.
Janus.
Grete Meisel=Heß: „Die Bedeutung der Monogamie.“ Berlin,
Oesterheld & Cie.
In einer kleinen Broschüre tritt Grete Meisel=Heß voll warmer Empfin¬
dung für die Monogamie ein und streut Pech und Schwefel auf alle, die sich
gegen dieses heilige Naturgebot versündigen. Denn sie sucht zu beweisen, daß
das Wesen der Monogamie für den Tiefempfindenden das einzig natürliche ist.
Und auf den Abtrünnigen warten überall Strafen, seelische, moralische, körper¬
liche. Nur der Monogame geht ruhig und sicher durchs Leben. Wie ernst diese
Sache genommen werden 'müßte, wie tief erschüttert wir gerade jetzt dem
Niedergange der Moral zusehen, einer Moral, die nicht begründen will, die
keinen Höhenflug der Gedanken kennt, nur ei: Hinabsteigen in des Lebens
tiefste Niederungen, so peinlich empfinden wir ein Moralisieren, selbst wenn es
logisch begründet ist, selbst wenn es richtig und klug und wahr ist. Denn es
gibt eben auch Jahreszeiten der Moral. Ein Alter, wo man alles auf eine
Karte setzt, wo man im Augenblick zu leben glaubt, wo man im Augenblick
das Antlitz der Ewigkeit zu sehen meint, und erst je älter man wird, desto
länger dünkt einem der Weg, desto sicherer mag der Kluge sein Haus be¬
stellen. Da hält eben Frau Vernunft die Zügel fest in der Hand und das
Temperament sitzt ganz still im Hintergrund und lächelt oder gähnt.
In seinem gedankentiefen Buch über Erziehung und Selbsterziehung
macht Prof. Förster der modernen Ethik den Vorwurf, daß sie verdamme, ohne
gleichzeitig aufzurichten, dazu bedürfe es, wie er meint, Gottes Wort. Viel¬
leicht gelänge dasseibe auch Worten, von menschlicher Güte durchleuchtek,
Worten von einem Verstehen, das begreifen will, nicht nur richten, Worten, die
bessern und erheben möchten, die durchtränkt sind von höchster Liebe, Worten
deren Menschentum Gottestum bedeutet. Grete Meisel=Heß hat, obgleich sie die
Fahne ihrer Liebe hoch hält, zu wenig Menschenliebe.
Marie Holzer.
Artur Schnitzler: „Doktor Graesler, Badearzt.“ Erzählung.
Verlag S. Fischer, Berlin.
Daß Artur Schnitzler die Fünfzig überschritten hat, ist für die Schreier
des „jüngsten Tages“ Grund genug, ihn „vieux jeu“ zu finden; aber auch
vor manchen der ernsten Männer, die für den „jüngsten Tag“ streiten, die
nicht den Eintag noch Alltag meinen, findet Schnitzler nur geteilte Gnade. Sie
klagen, daß er allzu ausschließlich das „erotische Thema“ behandle; ein Vor¬
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