Badearzt
Graesler
box 4/9
29. Dokt
Orenen u d S MTZ#
wurf freilich, der die Natur in gleichem Maße trifft, da auch sie in Variationen
des gleichen Themas nicht kargt. Aber, hier klingt noch eine Klage mit, für
welche die Natur nicht aufkommen könne: seine Sinnlichkeit sei nicht das, was
Ne. deutschland „gesund“ nennt, sie sei, horribile dictu, fast anmutig.
Ich wiederhole: daß in seinen Werken die Geschlechtsliebe immer wieder
in den Vordergrund tritt, haben diese mit der Natur gemein; die Art und
Weise also, wie er mit ihr fertig wird? Die Anmut, die ihm die an ihrer
Geschlechtlichkeit vehementer Leidenden übelnehmen, diese, ich glaube wir nennen
es vielleicht wirklich am besten Fertigkeit im Lieben, sie mag das Vergängliche
an seinem Werke sein; aber — hier soll nicht von seiner großen, reifen Erzähler¬
kunst die Rede sein, die, ein Beispiel zu nennen, selbst in dieser Zeit der
Millionenmorde, es vermag, uns im „Dr. Graesler“ mit der Erzählung von
Katharinas Tod tief zu erschüttern — diese Anmut i't getaucht in eine leise,
edle Schwermut; es ist wie ein Verzweifeln an der Liebe, das unterklingt, das
die Herzen so vieler mitklingen machte. Nirgends wird dies deutlicher, als in
„Dr. Graesler“, der Geschichte des ältlichen Junggesellen, der, an der „großen
Liebe“ vorbei, aus Sinnenrausch durch den Tod der Liebsten erweckt, bei der
„Witwe mit Kind“ im Ehehafen landet; wenn wir so wollen: die Menschen¬
liebe am Ende der Geschlechtsliebe.
Das Liebesspiel der Jahrtausende, ist dies sein Ende, daß es uns mit "
den Sinnen ins „Abenteuer“ ins Spiel, mit dem Herzen über die Geschlechter
an den Menschen weist? Ach, wenn wir einst den Zeiten nachlesen wollen, ###
sie noch das Herz an die Sinne hängten, wir finden kein schöneres Verweilen,
als bei Sabine, der Trägerin der „großen Liebe“ des neuen Schnitzler=Buches.
9k. st.
Johanna Wolff: „Von Mensch zu Mensch“, Gedichte. Verlag
Rütten & Loening, Frankfurt, 1917.
Nach der Lektüre einiger Gereimtheiten und Ungereimtheiten dieses
Buches interessieren an ihm eigentlich nur mehr die literarpsychologisch inter¬
essante Feststellung des völligen Mangels an Kritik bei einem so hervor¬
ragenden Schöpfer wie Lilieneron, der diese Johanna Wolff hochloben konnte
und nach der kunstzweiflischen Seite hin der Wunsch, der Verlag Rütten
& Loening möge lieber seinem bisherigen Prinzip, keine Lyrik zu bringen,
treu bleiben, als seinem ausgezeichneten Namen durch solche Veröffentlichungen
zu schaden. Wenn man nun unter dem Gewissenszwange der unentrinnbar zu
schreibenden Rezension noch ein paar Seiten dieser „Holdchen, goldchen, Silber¬
fisch“=Poesie gekostet hat, stößt man unter größtem Erstaunen plötzlich auf
tyrtäische Klänge. Etwa so: „Wir geben Blut — ihr müßt uns Wasser geben“,
oder ein knechtselig=angriffsfreudiges „Lied vom deutschen Mann“, oder an das
deutsche Volk: „Ob Völker zerbrechen im großen Gericht, du trägst durch das
Chaos dein siegenves Licht, setz weit deine Grenzen und fürchte dich
nicht.“ Und nun hat man plötzlich den Schlüssel zu der Unwesentlichkeit dieser
Couplets, die nicht Blut, sondern Wasser geben, weil sie nicht aus weiblichem
Trieb= und Innenleben aufwachsen, sondern in Nachahmung einer äußerlichen,
bramarbaßierenden Männerpoesie den „heil'gen, deutschen Herd“ auskühlen
lassen, um ihren deutschen Traum annexionsfreudig über die Grenzen zu schicken.
Wie eine Ironie mutet dann, wenn man das Buch, angeekelt von so viel Be¬
Graesler
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wurf freilich, der die Natur in gleichem Maße trifft, da auch sie in Variationen
des gleichen Themas nicht kargt. Aber, hier klingt noch eine Klage mit, für
welche die Natur nicht aufkommen könne: seine Sinnlichkeit sei nicht das, was
Ne. deutschland „gesund“ nennt, sie sei, horribile dictu, fast anmutig.
Ich wiederhole: daß in seinen Werken die Geschlechtsliebe immer wieder
in den Vordergrund tritt, haben diese mit der Natur gemein; die Art und
Weise also, wie er mit ihr fertig wird? Die Anmut, die ihm die an ihrer
Geschlechtlichkeit vehementer Leidenden übelnehmen, diese, ich glaube wir nennen
es vielleicht wirklich am besten Fertigkeit im Lieben, sie mag das Vergängliche
an seinem Werke sein; aber — hier soll nicht von seiner großen, reifen Erzähler¬
kunst die Rede sein, die, ein Beispiel zu nennen, selbst in dieser Zeit der
Millionenmorde, es vermag, uns im „Dr. Graesler“ mit der Erzählung von
Katharinas Tod tief zu erschüttern — diese Anmut i't getaucht in eine leise,
edle Schwermut; es ist wie ein Verzweifeln an der Liebe, das unterklingt, das
die Herzen so vieler mitklingen machte. Nirgends wird dies deutlicher, als in
„Dr. Graesler“, der Geschichte des ältlichen Junggesellen, der, an der „großen
Liebe“ vorbei, aus Sinnenrausch durch den Tod der Liebsten erweckt, bei der
„Witwe mit Kind“ im Ehehafen landet; wenn wir so wollen: die Menschen¬
liebe am Ende der Geschlechtsliebe.
Das Liebesspiel der Jahrtausende, ist dies sein Ende, daß es uns mit "
den Sinnen ins „Abenteuer“ ins Spiel, mit dem Herzen über die Geschlechter
an den Menschen weist? Ach, wenn wir einst den Zeiten nachlesen wollen, ###
sie noch das Herz an die Sinne hängten, wir finden kein schöneres Verweilen,
als bei Sabine, der Trägerin der „großen Liebe“ des neuen Schnitzler=Buches.
9k. st.
Johanna Wolff: „Von Mensch zu Mensch“, Gedichte. Verlag
Rütten & Loening, Frankfurt, 1917.
Nach der Lektüre einiger Gereimtheiten und Ungereimtheiten dieses
Buches interessieren an ihm eigentlich nur mehr die literarpsychologisch inter¬
essante Feststellung des völligen Mangels an Kritik bei einem so hervor¬
ragenden Schöpfer wie Lilieneron, der diese Johanna Wolff hochloben konnte
und nach der kunstzweiflischen Seite hin der Wunsch, der Verlag Rütten
& Loening möge lieber seinem bisherigen Prinzip, keine Lyrik zu bringen,
treu bleiben, als seinem ausgezeichneten Namen durch solche Veröffentlichungen
zu schaden. Wenn man nun unter dem Gewissenszwange der unentrinnbar zu
schreibenden Rezension noch ein paar Seiten dieser „Holdchen, goldchen, Silber¬
fisch“=Poesie gekostet hat, stößt man unter größtem Erstaunen plötzlich auf
tyrtäische Klänge. Etwa so: „Wir geben Blut — ihr müßt uns Wasser geben“,
oder ein knechtselig=angriffsfreudiges „Lied vom deutschen Mann“, oder an das
deutsche Volk: „Ob Völker zerbrechen im großen Gericht, du trägst durch das
Chaos dein siegenves Licht, setz weit deine Grenzen und fürchte dich
nicht.“ Und nun hat man plötzlich den Schlüssel zu der Unwesentlichkeit dieser
Couplets, die nicht Blut, sondern Wasser geben, weil sie nicht aus weiblichem
Trieb= und Innenleben aufwachsen, sondern in Nachahmung einer äußerlichen,
bramarbaßierenden Männerpoesie den „heil'gen, deutschen Herd“ auskühlen
lassen, um ihren deutschen Traum annexionsfreudig über die Grenzen zu schicken.
Wie eine Ironie mutet dann, wenn man das Buch, angeekelt von so viel Be¬