Badearzt
box 4/9
29. Doktor Graesler
aai
0r
Wien
ten die draußen im Reich die tugendhaften Nasen rümpfen und
von schlüpfriger Kunst eden. Dort draußen las sich's anders.
Dr. Gräsler, Badearzt.
Hier aber, wo Jahrhunderte gemächlicher Lebensführung und
Teurer Freund, was soll es nützen,
Stets das alte Lied zu leiern?
eine Musterauswahl vielsprachiger Ahnen eine Blutmischung
Willst du ewig weitersitzen
vermittelt hatten, der neben vielen Fehlern überlegene Duld¬
Auf den alten Liebeseiern?
samkeit und ein Tropfen Weltbürgertum nachgerühmt werden
Achl das ist ein ewig Gattern,
konnte, hier plapperten sie manchmal nach, was der große
Aus den Schalen kriechen Küchlein
Bruder mit gerunzelter Stirne getadelt hatte; im übrigen aber
Und sie piepsen und sie flattern
Und du sperrst sie in ein Büchlein.
ließ man sich die Freude an Dingen nicht verkümmern, die sich
Heine, „Heimkehr“, 44.
um so anziehender lesen ließen, als sie die ungehobelte Wirk¬
lichkeit ja doch nicht schenken kann. Überdies hing so mancher
Berge kreißen, seit Jahrzehnten festgefügte überliefe¬
Artur Schnitzler nimmt davon nicht
seiner glaubhaften Phantasiegestalten ein Mantel aus Schwer¬
rungen verblassen
mut über den Schultern; sah man trüben Gemütes hin auf
Kenntnis. Ein neues, gänzlich verändertes Geschlecht von
sie, schaute so mancher lachenden Maske der Tod aus den
Menschen hat früher nie gekannte Sorgen, nie gefühlte Wünsche
an das Schicksal und es sieht eine wenig erfreuliche Zukunft
glänzenden Augen. Das versöhnte vielsach auch die, die die
heraufsteigen, ein übergroßer Teil des Volkes ist Proletariat
Bodenständigkeit eines Geistes verneinten, der da, durch die
geworden; und es sind viele unter den Verarmten, die einst
Umwelt seiner Gestalten und durch den eingeräumten hohen
gerne den Dichter lasen, der es vorzog, die tieferen Fragen
Rang unter den heimischen, Dichtern einigermaßen zu
des Lebens nur an Menschen abzuwandeln, die jenseits der
Genauigkeit verpflichtet, ausnahmslos vom Führen und Irren
Sorge ums Brot standen und daher anzusehen waren, als
der Satten und Übersättigten redete.
spillten sie nur mit diesen ernstesten Dingen. Es gibt viele,
Es hat sich nun in ein paar Kriegsjahren das Antlitz
die nun sehen, daß sie sich weit von Artur Schnitzler entfernt
der Zeit und der Menschen, die verdammt sind, in ihr leben
haben, der unbekümmert dort stehen blieb, wo er in jungen
zu müssen, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Eine fürchter¬
Jahren seinen Standpunkt auf mäßig hoher Warte wählte, um
liche Zeit, fälschlich die große genannt, vernichtete, was an
zu einem Kreis von Leuten zu sprechen, die ihm nach dem
Lebenslust, Fahrigkeit und wenn nicht göttlichem, so doch gut¬
Essen gerne und geschmeichelt zuhörten, weil es einer der
mütigem Leichtsinn, an Mut oder Schwäche, das Leben leicht
ihren war, der die eigene Gefühlswelt besprach und fesselnd
zu nehmen, in uns schlummerte. Der Ernst des Lebens, der
zergliederte.
rechnerische, tyrannische, minutenversessene, unternahm eine
Als die Welt noch mit offenen, weit ausgebreiteten
Offensive, die so restlos glückte, daß die Beschaulichkeit bis
Armen auf alle Jugend wartete und ihr Geheimnisse und
auf den letzten Hauch von freier Zeit und Wohlbehagen ver¬
Wunder verhieß, als noch der ärmste, elternlose Student von
nichtet wurde; der Durchbruch bis in die Trostlosigkeit gelang
seinen kommenden schönsten Juhren dachte, sie wären da, um
wie kein Unternehmen der kriegführenden Völker. So stand und
seiner Sehnsucht nach unerhört aufwühlenden Erlebnissen Er¬
steht es um die deutschsprechende Menschheit, als letzthin das
füllung zu spenden, bevor er im engen Kreis der eigenen
neueste Werk Schnitzlers, die Erzählung „Doktor Gräsler,
Familie, am Ufer der objektiven Betrachtung hingelagert,
Badearzt“, erschien.
nur mehr Zuschauer sein durfte, damals hat Artur Schnitzler
Es ist jetzt ein Aufhorchen, eine ungemein drängende
auch jenen, die keine Abenteuerfahrt nach blauen Fernen tun
Erwartung in uns: wenn schon aus tausenderlei Rücksichten,
konnten, tröstend erzählt, daß das Wunderbare auf der Straße
angeblich zwingenden Gründen und eingeborener Feigheit
zu finden wäre, und in Frauenaugen, an denen man lange
alle die, die zur Offentlichkeit reden können, nicht jene Worte
achtlos vorbeigesehen hatte. Die Stadt der liebenswürdigsten
finden, die dem Einfachsten und Unverbildetsten unter uns
Deutschen ließ über den Dichter nichts kommen, der ihre Leute
geläufig sind und schon bis zum Überdruß und unaustilgbar
nach der Arbeit schilderte, der die Decke der üblichen Lebens¬
in jedem Gehirn verankert sind — eine abscheuerfüllte Anklage
lüge von den erlebnishungrigen Wachträumern streifte; moch¬
jegen das größte Verbrechen wider
gegen diesen größten Krieg —
nächste Berufene, der nach dem Kön
verkündet er von der Menschheit H
den ungeduldig Wartenden, wie la
seines Aufrufs an die vergiftete
„Doktor Gräsler, Badearzt“.
Was dem Doktor Gräsler, de
Lanzarote und im Sommer in ein
städtchen seine bescheidene berufliche
Lanzarote und Lanzarote zustößt,
zählung. Der Arzt Gräsler ist ein
ohne inneren Halt, wie man zu
Strom der Geschehnisse. Er verlie
ein selbstbewußtes Mädchen, das i
er hat gleichzeitig ein Verhältnis i
Verkäuferin, die er, von einem
mend, ansteckt, die ihm wegstirbt,
gedachte. Schließlich nimmt ihn ein
Kindes, zum Mann. — Dies all
überlegenen Art Schnitzlers recht
gänzlich uninteressante Geschehniss
die große Kunst schärfster Beob
Wiedergabe des Geschauten nahe
nicht warm, höchstens ein wenig
das Buch in der Hand hält. Das
uns, die wir die Melodie längst
niun ist sie abgespielt.
Der Rest ist Bedauern. Es
erwählten die Gabe, zu sagen,
was, noch ungeklärt und verworr
und sich noch nicht an die Obe
emporringen konnte; aus den dum
nen schöpft der Dichter die neue #
morgen, er spricht aus, was die
konnten. Viele Wege führen zur 2#
verrammelt, läßt sich einer finden
lärm, besser als jeder andere Au¬
würdigeren Menschentums gewäh
hätten Artur Schnitzler verstanden
gewesen.
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29. Doktor Graesler
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ten die draußen im Reich die tugendhaften Nasen rümpfen und
von schlüpfriger Kunst eden. Dort draußen las sich's anders.
Dr. Gräsler, Badearzt.
Hier aber, wo Jahrhunderte gemächlicher Lebensführung und
Teurer Freund, was soll es nützen,
Stets das alte Lied zu leiern?
eine Musterauswahl vielsprachiger Ahnen eine Blutmischung
Willst du ewig weitersitzen
vermittelt hatten, der neben vielen Fehlern überlegene Duld¬
Auf den alten Liebeseiern?
samkeit und ein Tropfen Weltbürgertum nachgerühmt werden
Achl das ist ein ewig Gattern,
konnte, hier plapperten sie manchmal nach, was der große
Aus den Schalen kriechen Küchlein
Bruder mit gerunzelter Stirne getadelt hatte; im übrigen aber
Und sie piepsen und sie flattern
Und du sperrst sie in ein Büchlein.
ließ man sich die Freude an Dingen nicht verkümmern, die sich
Heine, „Heimkehr“, 44.
um so anziehender lesen ließen, als sie die ungehobelte Wirk¬
lichkeit ja doch nicht schenken kann. Überdies hing so mancher
Berge kreißen, seit Jahrzehnten festgefügte überliefe¬
Artur Schnitzler nimmt davon nicht
seiner glaubhaften Phantasiegestalten ein Mantel aus Schwer¬
rungen verblassen
mut über den Schultern; sah man trüben Gemütes hin auf
Kenntnis. Ein neues, gänzlich verändertes Geschlecht von
sie, schaute so mancher lachenden Maske der Tod aus den
Menschen hat früher nie gekannte Sorgen, nie gefühlte Wünsche
an das Schicksal und es sieht eine wenig erfreuliche Zukunft
glänzenden Augen. Das versöhnte vielsach auch die, die die
heraufsteigen, ein übergroßer Teil des Volkes ist Proletariat
Bodenständigkeit eines Geistes verneinten, der da, durch die
geworden; und es sind viele unter den Verarmten, die einst
Umwelt seiner Gestalten und durch den eingeräumten hohen
gerne den Dichter lasen, der es vorzog, die tieferen Fragen
Rang unter den heimischen, Dichtern einigermaßen zu
des Lebens nur an Menschen abzuwandeln, die jenseits der
Genauigkeit verpflichtet, ausnahmslos vom Führen und Irren
Sorge ums Brot standen und daher anzusehen waren, als
der Satten und Übersättigten redete.
spillten sie nur mit diesen ernstesten Dingen. Es gibt viele,
Es hat sich nun in ein paar Kriegsjahren das Antlitz
die nun sehen, daß sie sich weit von Artur Schnitzler entfernt
der Zeit und der Menschen, die verdammt sind, in ihr leben
haben, der unbekümmert dort stehen blieb, wo er in jungen
zu müssen, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Eine fürchter¬
Jahren seinen Standpunkt auf mäßig hoher Warte wählte, um
liche Zeit, fälschlich die große genannt, vernichtete, was an
zu einem Kreis von Leuten zu sprechen, die ihm nach dem
Lebenslust, Fahrigkeit und wenn nicht göttlichem, so doch gut¬
Essen gerne und geschmeichelt zuhörten, weil es einer der
mütigem Leichtsinn, an Mut oder Schwäche, das Leben leicht
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zu nehmen, in uns schlummerte. Der Ernst des Lebens, der
zergliederte.
rechnerische, tyrannische, minutenversessene, unternahm eine
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Offensive, die so restlos glückte, daß die Beschaulichkeit bis
Armen auf alle Jugend wartete und ihr Geheimnisse und
auf den letzten Hauch von freier Zeit und Wohlbehagen ver¬
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steht es um die deutschsprechende Menschheit, als letzthin das
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neueste Werk Schnitzlers, die Erzählung „Doktor Gräsler,
Familie, am Ufer der objektiven Betrachtung hingelagert,
Badearzt“, erschien.
nur mehr Zuschauer sein durfte, damals hat Artur Schnitzler
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auch jenen, die keine Abenteuerfahrt nach blauen Fernen tun
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Was dem Doktor Gräsler, de
Lanzarote und im Sommer in ein
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verrammelt, läßt sich einer finden
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