29. Doktor Graes
Badearzt
ESSO JILEerSE
box 4/9
Ausgleichsgesichtspunkt. Ist dann nicht ein gräm¬
liches Alter mit seinem Minus an Kraft, Gesundheit
und Lust das Aquivalent, mit dem für das Plus der
Jugend bezahlt wird! Und kann nicht in einem hei¬
teren, sorglosen Lebensabend der Dank vermutet
werden, mit dem das gerechte Leben jahrzehnte¬
lange Mühsale bezahlt!! Jeder Kostgänger dieser
Erde muß ja seine Rechnung begleichen, ehe er zu¬
rücktritt; mag nun die Kurve seines Glückes in
schönem anspruchslosen Gleichmaß gelaufen sein
oder in wilder, aufgeregter Sprunghaftigkeit.
So hat denn ein jeder seinen Typus von Glück
und Kummer, und es tut nicht gut, abzuirren von
dem einmal vorbestimmten.
Der Held in Arthur Schnitzlers neuer feiner
Erzählung!) macht einen solchen Versuch. Ein
Durchschnittsmensch, den der Lebenszufall Arzt
werden ließ, pendelt dieser Doktor Gräsier hin und her
zwischen dem kleinen deutschen Badeorte, wo er im
Sommer, und der südlichen Insel Lanzarote, wo er
den Winter über praktiziert. Sein Leben rollte sich
bisher gleichmäßig ab. Die Mühen einer Alltags¬
praxis, ohne viel Ehrgeiz. Die Schwester führte ihm
den Haushalt, unaufdringlich und geräuschlos. Er
scheint „zufrieden.“ Wie unter einem grauen Himmel
von Resignation, so rann sein Leben dahin. Da
kommt eines Tages die Katastrophe: Dieselbe
Schwester, in deren stillen Wassern sich manches
Geheimnis barg, begeht Selbstmord und läßt ihn
allein. Das Gemüt des Mannes, aus seinem wunsch¬
und ein wenig gedankenlosen Frieden aufgeschreckt,
wirft plötzlich Wellen. Er fühlt sich als Achtund¬
vierziger, für den es mählich Abend werden will.
Fühlt, daß es Zeit wäre, unter Dach und Fach zu
kommen, ehe es zu spät wird. Und siehe, Eros hat
Telephon 12.801
nur auf diesen Augenblick der Erkenntnis, der Sehn¬
sucht, des empfundenen Mangels gewartet. Drei
6
„OBSERVEK,
Frauen kreuzen nach des Liebesgottes Willen seinen
Weg.
I. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeltungs-Russchnitte
Zuerst die schöne und stolze Sabine. Auch sie,
Wien, I., Concordiaplatz Nr. 4.
27jährig, leidet unter der drohenden Vereinsamung
und wirft unmerklich ein geschicktes Netz um den
Uberreifen. Sie sucht den Fahrenden sebhaft zu
6-JUl. 1918
machen, indem sie ihn auf ein gerade verkäufliches
Sahatorium hinlenkt. Der Besitzer, ein Sonderling,
will sein Haus je eher je lieber losschlagen, „da er
die paar Jahre, die ihm noch beschieden wären, in
möglichster Entfernung von wirklichen und einge¬
Die Umschau, Frankfurt a. M.
bildeten Kranken zu verbringen und sich von den
hunderttausend Lügen zu erholen wünschte, zu
Das bißchen Glück.
denen ihn sein Beruf zeitlebens gezwungen hätte.
„Sie können's auf sich nehmen“, sagte er, „Sie sind
In einer geistreichen Novelle versuchte jüngst
noch jung“, was Doktor Gräsier zu einer melancho¬
Kaspar Ludwig Merkl zu beweisen, daß alle
lisch abwehrenden Handbewegung veranlaßte.“ Denn
Menschen gleich glücklich seien. Glück, sagt er,
dies ist seine Tragik: allzu große Bescheidenheit, ja
ist Befriedigungslust. Die Lust der Befriedigung
Selbstunterschätzung war von jeher sein schlimmster
aber entspricht dem Schmerze des Bedürfnisses.
Fehler; sonst „säße er wohl heute nicht als Bade¬
„Mit der Stärke jeglichen Schmerzes muß sich also
arzt in diesem lächerlichen kleinen Kurstädtchen,
die gleiche Stärke Genuß einstellen.“ Wer dauernde
sondern in Wiesbaden oder Ems als Geheimer Sani¬
mäßige Bedürfnisse hat, wird in ihrer Befriedigung
tätsrat.“ Er zögert vor dem letzten Zugriff. Und
ein dauerndes, doch mäßig intensives Glück finden.
Sabine läßt andere Minen springen. Sie zeigt ihm
Wer zu den Extremen neigt, wird extreme Unlust,
doch auch extreme Befriedigung in der Lösung der
offene Sympathié. Ja, endlich, als nichts verfangen
will, schreibt sie ihm einen schönen und freimütigen
Bedürfnisspannung haben. Die Glüchsmasse beider
ist verschieden verteilt, doch im ganzen gleich.
Brief und trägt sich ihm selber an; aus herzlicher
Ohne sich auf diese Lösung durchaus festzulegen,
1) Dr. Gräsier, Badearzt. 222 Seiten. Preis geh. M. 3.—
kann man wohl noch weiter gehen. Man stelle ein¬
mal die verschiedenen Lebensphasen unter diesen geb. M. 4.— Berlin ror7. Verlag S. Fischer.
Freundschaft. „Liebe“, schreibt sie, „ist es wohl
nicht. Noch nicht.“ Aber Gräsler fühlt dunkel, das
dieses Glück nicht für ihn gewachsen ist. Er krittelt
an dem Brief herum — „sie hatte es richtig heraus¬
gebracht, daß er ein Pedant war, eitel, kühl, unent¬
schlossen“ —, bittet sich vierzehn Tage Bedenkzeit aus
und entweicht in seine Heimatstadt. Und der Liebes:
film rollt weiter. Ein Idyll mit der lieblichen Katha¬
rina löst die stolze Sabine ab. Kleiner Leute Kind,
läuft ihm die anmutige Verkäuferin gleich am ersten
Tage in den Weg. Schnell schlingt sich ein Band
hinüber und herüber. Sie zieht auf Wochenfrist zu
Der Klein-Pikrehner zuletzt. Er
noch eine Abschiedsrede: „Nu lieg
feichten Erde. Nu is er weg. Er
Leben jehabt. Aber daß er de — nei
noch hat mitmachen kennen, das
noch ’ne Freide gewesen.“ Und
wandt: „Heeren Se, Neimann, we
reden wer noch, das Jeschäft müs
Neimann“
Die Auseinandersetzung mit
nimmt unangenehmste Form an,
Länge. Georg, angewidert von allel
Badearzt
ESSO JILEerSE
box 4/9
Ausgleichsgesichtspunkt. Ist dann nicht ein gräm¬
liches Alter mit seinem Minus an Kraft, Gesundheit
und Lust das Aquivalent, mit dem für das Plus der
Jugend bezahlt wird! Und kann nicht in einem hei¬
teren, sorglosen Lebensabend der Dank vermutet
werden, mit dem das gerechte Leben jahrzehnte¬
lange Mühsale bezahlt!! Jeder Kostgänger dieser
Erde muß ja seine Rechnung begleichen, ehe er zu¬
rücktritt; mag nun die Kurve seines Glückes in
schönem anspruchslosen Gleichmaß gelaufen sein
oder in wilder, aufgeregter Sprunghaftigkeit.
So hat denn ein jeder seinen Typus von Glück
und Kummer, und es tut nicht gut, abzuirren von
dem einmal vorbestimmten.
Der Held in Arthur Schnitzlers neuer feiner
Erzählung!) macht einen solchen Versuch. Ein
Durchschnittsmensch, den der Lebenszufall Arzt
werden ließ, pendelt dieser Doktor Gräsier hin und her
zwischen dem kleinen deutschen Badeorte, wo er im
Sommer, und der südlichen Insel Lanzarote, wo er
den Winter über praktiziert. Sein Leben rollte sich
bisher gleichmäßig ab. Die Mühen einer Alltags¬
praxis, ohne viel Ehrgeiz. Die Schwester führte ihm
den Haushalt, unaufdringlich und geräuschlos. Er
scheint „zufrieden.“ Wie unter einem grauen Himmel
von Resignation, so rann sein Leben dahin. Da
kommt eines Tages die Katastrophe: Dieselbe
Schwester, in deren stillen Wassern sich manches
Geheimnis barg, begeht Selbstmord und läßt ihn
allein. Das Gemüt des Mannes, aus seinem wunsch¬
und ein wenig gedankenlosen Frieden aufgeschreckt,
wirft plötzlich Wellen. Er fühlt sich als Achtund¬
vierziger, für den es mählich Abend werden will.
Fühlt, daß es Zeit wäre, unter Dach und Fach zu
kommen, ehe es zu spät wird. Und siehe, Eros hat
Telephon 12.801
nur auf diesen Augenblick der Erkenntnis, der Sehn¬
sucht, des empfundenen Mangels gewartet. Drei
6
„OBSERVEK,
Frauen kreuzen nach des Liebesgottes Willen seinen
Weg.
I. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeltungs-Russchnitte
Zuerst die schöne und stolze Sabine. Auch sie,
Wien, I., Concordiaplatz Nr. 4.
27jährig, leidet unter der drohenden Vereinsamung
und wirft unmerklich ein geschicktes Netz um den
Uberreifen. Sie sucht den Fahrenden sebhaft zu
6-JUl. 1918
machen, indem sie ihn auf ein gerade verkäufliches
Sahatorium hinlenkt. Der Besitzer, ein Sonderling,
will sein Haus je eher je lieber losschlagen, „da er
die paar Jahre, die ihm noch beschieden wären, in
möglichster Entfernung von wirklichen und einge¬
Die Umschau, Frankfurt a. M.
bildeten Kranken zu verbringen und sich von den
hunderttausend Lügen zu erholen wünschte, zu
Das bißchen Glück.
denen ihn sein Beruf zeitlebens gezwungen hätte.
„Sie können's auf sich nehmen“, sagte er, „Sie sind
In einer geistreichen Novelle versuchte jüngst
noch jung“, was Doktor Gräsier zu einer melancho¬
Kaspar Ludwig Merkl zu beweisen, daß alle
lisch abwehrenden Handbewegung veranlaßte.“ Denn
Menschen gleich glücklich seien. Glück, sagt er,
dies ist seine Tragik: allzu große Bescheidenheit, ja
ist Befriedigungslust. Die Lust der Befriedigung
Selbstunterschätzung war von jeher sein schlimmster
aber entspricht dem Schmerze des Bedürfnisses.
Fehler; sonst „säße er wohl heute nicht als Bade¬
„Mit der Stärke jeglichen Schmerzes muß sich also
arzt in diesem lächerlichen kleinen Kurstädtchen,
die gleiche Stärke Genuß einstellen.“ Wer dauernde
sondern in Wiesbaden oder Ems als Geheimer Sani¬
mäßige Bedürfnisse hat, wird in ihrer Befriedigung
tätsrat.“ Er zögert vor dem letzten Zugriff. Und
ein dauerndes, doch mäßig intensives Glück finden.
Sabine läßt andere Minen springen. Sie zeigt ihm
Wer zu den Extremen neigt, wird extreme Unlust,
doch auch extreme Befriedigung in der Lösung der
offene Sympathié. Ja, endlich, als nichts verfangen
will, schreibt sie ihm einen schönen und freimütigen
Bedürfnisspannung haben. Die Glüchsmasse beider
ist verschieden verteilt, doch im ganzen gleich.
Brief und trägt sich ihm selber an; aus herzlicher
Ohne sich auf diese Lösung durchaus festzulegen,
1) Dr. Gräsier, Badearzt. 222 Seiten. Preis geh. M. 3.—
kann man wohl noch weiter gehen. Man stelle ein¬
mal die verschiedenen Lebensphasen unter diesen geb. M. 4.— Berlin ror7. Verlag S. Fischer.
Freundschaft. „Liebe“, schreibt sie, „ist es wohl
nicht. Noch nicht.“ Aber Gräsler fühlt dunkel, das
dieses Glück nicht für ihn gewachsen ist. Er krittelt
an dem Brief herum — „sie hatte es richtig heraus¬
gebracht, daß er ein Pedant war, eitel, kühl, unent¬
schlossen“ —, bittet sich vierzehn Tage Bedenkzeit aus
und entweicht in seine Heimatstadt. Und der Liebes:
film rollt weiter. Ein Idyll mit der lieblichen Katha¬
rina löst die stolze Sabine ab. Kleiner Leute Kind,
läuft ihm die anmutige Verkäuferin gleich am ersten
Tage in den Weg. Schnell schlingt sich ein Band
hinüber und herüber. Sie zieht auf Wochenfrist zu
Der Klein-Pikrehner zuletzt. Er
noch eine Abschiedsrede: „Nu lieg
feichten Erde. Nu is er weg. Er
Leben jehabt. Aber daß er de — nei
noch hat mitmachen kennen, das
noch ’ne Freide gewesen.“ Und
wandt: „Heeren Se, Neimann, we
reden wer noch, das Jeschäft müs
Neimann“
Die Auseinandersetzung mit
nimmt unangenehmste Form an,
Länge. Georg, angewidert von allel