I, Erzählende Schriften 29, Doktor Gräsler, Badearzt, Seite 106

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Tenrere chet Se er Wohl heute nicht als Brae¬
gleiche Stärke Genuß einstellen.“ Wer dauernde
arzt in diesem lächerlichen Fleinen Kurstädtchen,
ßige Bedürfnisse hat, wird in ihrer Befriedigung
sondern in Wiesbaden oder Ems als Geheimer Sani¬
dauerndes, doch mäßig intensives Glück finden.
tätsrat. Er zögert vor dem letzten Zugriff. Und
er zu den Extremen neigt, wird extreme Unlust,
Sabine läßt andere Minen springen. Sie zeigt ihm
ch auch extreme Befriedigung in der Lösung der
offene Sympathie. Ja, endlich, als nichts verfangen
dürfnisspannung haben. Die Glüchsmasse beider
will, schreibt sie ihm einen schönen und freimütigen
verschieden verteilt, doch im ganzen gleich.
Brief und trägt sich ihm selber an; aus herzlicher
Ohne sich auf diese Lösung durchaus festzulegen,
n man wohl noch weiter gehen. Man stelle ein¬
1) Dr. Gräsler, Badearzt. 222 Seiten. Preis geh. M. 3.—
1 die verschiedenen Lebensphasen unter diesen
geb. M. 4.— Berlin 1017. Verlag S. Fischer.
Freundschaft. „Liebe“, schreibt sie, „ist es wohl
Der Klein-Pikrehner zuletzt. Er hält den Söhnen
nicht. Noch nicht.“ Aber Gräsler fühlt dunkel, das
noch eine Abschiedsrede: „Nu liegt der Alte in der
dieses Glück nicht für ihn gewachsen ist. Er krittelt
feichten Erde. Nu is er weg. Er hat ein schweres
an dem Brief herum — „sie hatte es richtig heraus¬
Leben jehabt. Aber daß er de — neie — Hiehnerjagd
gebracht, daß er ein Pedant war, eitel, kühl, unent¬
noch hat mitmachen kennen, das is fier ihn doch
schlossen“ —, bittet sich vierzehn Tage Bedenkzeit aus
noch ’ne Freide gewesen.“ Und zu Neumann ge¬
und entweicht in seine Heimatstadt. Und der Liebes:
wandt: „Heeren Se, Neimann, wegen dem Bullen
film rollt weiter. Ein Idyll mit der lieblichen Katha¬
reden wer noch, das Jeschäft müssen wer machen,
rina löst die stolze Sabine ab. Kleiner Leute Kind,
Neimann“
läuft ihm die anmutige Verkäuferin gleich am ersten
Die Auseinandersetzung mit dem Haupterben
Tage in den Weg. Schnell schlingt sich ein Band
nimmt unangenehmste Form an, zieht sich in die
hinüber und herüber. Sie zicht auf Wochenfrist zu
Länge. Georg, angewidert von alledem, packt kurz
ihm in das alte Familienhaus. Ein Gelegenheits¬
entschlossen seine Koffer und übersiedelt in den
besuch ruft ihn fort. Als er heimkommt, findet er
deutschen Süden, nach München. Neue Luft, neue
Katharina — im Schlafzimmer. „Er öffnet die Tür.
Eindrücke, eine neue Welt. Die Menschen tragen
Da lag Katharina oder saß vielmehr aufrecht in
merkwürdige Trachten und sprechen eine völlig un¬
seinem Bett und sah von einem dicken Buche auf,
verständliche Mundart; sie „gingen rascher, gingen
das sie auf der Decke in beiden Händen hielt.
federnd, gingen leichter.“ In einem Pensionat steigt
„Du bist doch nicht böse“, sagte sie einfach. Ihre
Georg ab. Und nun will es das Schicksal, daß er
braunen, leicht gelockten Haare rannen aufgelöst
in einen Schwabinger Künstlerkreis gerät, in den
über ihre blassen Schultern. Wie schön sie war! —
der steife, junkerhafte Ostpreuße paßt, wie der Esel
Ihre Augen lächelten, ganz ohne Spott, — hin¬
zur Laute. Da ist der vielseitige Scherwonny, der
gebungsvoll beinahe. Gräsler setzte sich zu ihr aufs
heute von einem Briefträger, morgen von einem
Bett, zog sie an sich, küßte sie auf den Hals, und das
Gymnasialprofessor, übermorgen von einem Pasteten¬
schwere Buch klappte zu.“ Ein Schäferspiel voll Süße
bäcker stammt und sich recht und schlecht in den
und Naivität. Doch eben nur ein Spiel. Nicht die
Himmel der Kunst hineinhungert, ein Selbstspötter
stolze Sabine, die ihm den Ehrgeiz gestachelt hätte,
von Genie. Da ist das schöne blonde Fräulein von
ist sein Schicksal; nicht die graziöse Ladnerin, deren
Grünheide aus Kurland; sie nimmt sich des Stu¬
Bildungsstufe so tief unter der seinen liegt. Zwischen
denten an, erzieht, bemuttert, neckt ihn, geht mit
beiden pendelt sein Herz im Wechsel von Liebe,
ihm auf den Karneval und reist mit ihm nach
Reue und Sehnsucht hin und her, ohne zur Wahl
Venedig. Er aber wird an ihr zum Narren und betet
zu kommen. Sabine läßt ihn fallen, Katharina stirbt
sie an. Hoffnungslos. „Sind wir nicht vielleicht
am Scharlach, und der unselige Doktor fällt der
doch ein wenig Frcunde, Gertrud!“ Da parodierte
molligen Witwe Sommer anheim. Ein Dutzend¬
sie ein früheres Gespräch. „Abber i wol Abber
schicksal, wie es der Alltag tausendfältig schafft,
wir kännen uns ja ieberhaupt kaum. Was wolln
mit dem verzeihenden Auge des Dichters gesehen.
Se eijentlich von mir, Herr Balzereit?“ Er sagte,
Und ein Dutzendschicksal bringt auch Karl Bulcke
schwer von Liebe, die Augen halb geschlossen, ganz
in seinem schwermütigen neuen Roman „Balzereit“.:)
entrückt, ganz verzückt, jedes Wort betonend: „Sie
Der stockkonservative Majoratsherr Balzereit auf
sind ganz süß, Sie sind das Süßeste, das Süßeste auf der
Lischkehmen ist plötzlich gestorben. — „Heeren Se,
Welt ... Ich denke Tag und Nacht an Sie ... ich
Mensch, Neimann, mir wird so komisch“, und seine
bin ganz versunken in Andacht vor Ihrer Schön¬
drei Söhne betrauern ihn. Der feudale Regierungs¬
heit.“ — Als sie kühl bleibt, will er auf und davon
assessor, der Leutnant und der junge Rechtsstudent
gehen. Aber „hierbleiben hierbleiben“ rät Scher¬
Georg. Sie trauern um den Alten, und mittlerweile
wonny, „zunächst mal drei, vier Jahre, bis man Sie
sucht der Alteste, der das Majcrat erbt, die jüngeren
in Norddeutschland als rettungslos aufgegeben hat.
Wenn Sie oben rettungslos geworden sind, dann ist
Brüder gewaltig übers Ohr zu hauen. Die Trauer¬
es richtig.“
gäste aber sitzen beisammen und besaufen sich.
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Und das gründlich. „Es kam das erste dröhnende
„Aber, was soll ich denn tun!“
„Abwarten. Sie lassen das Norddeutsche ein¬
Gelächter. Es gab jetzt Geschrei. Der Klein-Pi¬
schlafen. Sie fressen sich in Gemütsruhe durch den
krehner beschwerte sich: Was er jetzt da im Glas
Kartoffelberg des Ewigweiblichen durch, bis Sie Ver¬
hätte, das sei der Surius aus dem Blutgericht. „Nei,
heeren Se, Neimann, dann bestell' ich mir lieber
stand haben. Wir müssen uns alle durchfressen,
hier ist es am einfachsten. Und dann dann haben
'nen steifen Grog.““ Man spricht von Zukunft und
Sie Ihren Verstand und Ihr Bankkonto. Dann haben
Wert der Güter. „Der Mischkottner, dröhnend an
Sie Ihre Villa in Florenz und Ihr Häuschen am
Stimme, eine lange Importzigarre im Munde, ver¬
Starnberger See.“ „Gut. Und dann?“ „Lieber
schwor sich auf fünfmalhunderttausend Taler. „Na,
Zazko, ich sagte bereits, dann haben Sie Verstand.
Mensch, na allein der Wald, na allein bloß Pap¬
Dann sind sie bloß dankbar. Auf den Knien dank¬
piauken“... Aber der große Herr von Sacken
bar und glücklich. Dann haben Sie so viel Ver¬
brüllte dazwischen: „Is ja alles Blech. Is ja Mostrich.
stand, daß Siegar nicht mehr nachzudenken brauchen.
Frag' ich einen Christenmenschen, wer kauft heit
Dann gehen Sie morgens in Ihren Garten in Florenz,
noch in Masuren?! Die Dammlichen werden immer
der von tausend Düften jubelt. Dann stampfen Sie
seltener. Na, und die Hypothekenzinsen!““
vor Wollust wie ein Pferd. Dann füllen Sie Wein
Man schreit, man brüllt, man trinkt. Am nächsten
ab. Dann kommen Gäste. Dann kommt der un¬
Morgen fahren alle mit schweren Köpfen nach Hause.
geheure Zauber der Abendsonnenfarben.“ „Es ver¬
1) Verlag Ullstein & Co. Berlin 1917. 411 Seiten. Preis
lockt,“ sagte Georg. „Man könnte dann große Bücher
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schreiben. Das täte ich gern.“