Frau Beate un
1
Sohn
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Ernst Lissauer
eben Kunst geblieben war, darum geschah ein Umschlag. Die epische
Kunst besann sich auf ihre ursprüngliche Pflicht, zu erzählen, zu fesseln,
zu spannen, zu erfinden: ich setze neben Schnitzlers Novelle als grelles
Gegenstück Kellermanns „Tunnel““
Der Ingenieur Mac Allan plant, einen Tunnel unter dem atlan¬
tischen Ozean zwischen Amerika und Buropa zu bohren, Ratastrophen,
Streiks, Unterschlagungen der leitenden Direkroren hemmen das Unter¬
nehmen, aber zuletzt wird es vollender. Dies ist die einfache Zand¬
lung des Komans. Aber dies alles ist bis ins kleinste Detail, bis
in den letzten Hammerschlag, der kilometertief unter dem Ozean ge¬
hauen wird, bis in den Umlauf des letzten Pfennigs, ist bis ins
letzte Zucken der Gedanken in den Gehirnen, gesehen und erlebt. Mie
hohem Aespekt steht man vor der Phantasie, welche die Welt dieses
technischen Epos ersann und bis ins feinste Detail erfindend durchbildete.
Ich stelle eine Anzahl solcher Züge zusammen: der Tunnel ruft eine
neue Krankheit hervor, die „Beuge“ genannt; eine Stelle im Tunnel
heißt das Fegefeuer, eine andere, die Hölle; ein rostbraunes, stark
radiumhaltiges Gestein wird gefanden und „Submarinium“ getauft;
Lieder der Bergleute, überzeugend mi ihrem Einschlag von prosaischem
Tonfall, werden gelegentlich gesungen. An nicht wenigen Stellen aber
wächst die realistische Darstellung ins Mpthische; manchmal denkr man an
die bizarr=großen Disionen des jungen Dichters Georg Seym: „die Allan¬
schen Bohrer, die den Berg perforierten, setzten mit einem klirrenden
Schrillen ein, der Berg schrie wie tausend Kinder auf einmal in Todes¬
angst, er lachte wie ein Heer Irrsinniger, er delirierte wie ein Lazarett
von Fieberkranken, und endlich donnerte er wie große Wasserfälle.“
Und nicht nur das Technische ist dargestellt, sondern dies ungeheure
Unternehmen, das natürlich ungeheurer Gelder bedarf, ergreift die
gesamte industrielle, finanzielle und soziale Welt, alle die großen
Komplexe des modernen Lebens werden in die Darstellung einbe¬
zogen: die Reklame, das Rino, die Börse, das organisierte Prole¬
tariat, und so wird das Tunnelbuch zu einem Bpos nicht nur von
Eisen und Arbeit, sondern überhaupt von den zivilisatorischen Ge¬
walten unserer Bpoche. Und vor allem ist eine Macht in dem Buche:
Energie. Alle Führenden haben sich aus den untersten Schichten
durch viele soziale Lagerungen hindurch emporgebohrt: Allan selbst
war Pferdejunge im Kohlenschacht, Lloyd, der Milliardär, Kantinen¬
wirt, Woolf ist der Sohn eines jüdischen Leichenwäschers aus Szentes
in Ungarn. Ganz und gar ist über diesem Buch die Atmosphäre des
S. Fischer, Berlin (I1 4.50).
1
Sohn
28. #a bos 4/5
922
Ernst Lissauer
eben Kunst geblieben war, darum geschah ein Umschlag. Die epische
Kunst besann sich auf ihre ursprüngliche Pflicht, zu erzählen, zu fesseln,
zu spannen, zu erfinden: ich setze neben Schnitzlers Novelle als grelles
Gegenstück Kellermanns „Tunnel““
Der Ingenieur Mac Allan plant, einen Tunnel unter dem atlan¬
tischen Ozean zwischen Amerika und Buropa zu bohren, Ratastrophen,
Streiks, Unterschlagungen der leitenden Direkroren hemmen das Unter¬
nehmen, aber zuletzt wird es vollender. Dies ist die einfache Zand¬
lung des Komans. Aber dies alles ist bis ins kleinste Detail, bis
in den letzten Hammerschlag, der kilometertief unter dem Ozean ge¬
hauen wird, bis in den Umlauf des letzten Pfennigs, ist bis ins
letzte Zucken der Gedanken in den Gehirnen, gesehen und erlebt. Mie
hohem Aespekt steht man vor der Phantasie, welche die Welt dieses
technischen Epos ersann und bis ins feinste Detail erfindend durchbildete.
Ich stelle eine Anzahl solcher Züge zusammen: der Tunnel ruft eine
neue Krankheit hervor, die „Beuge“ genannt; eine Stelle im Tunnel
heißt das Fegefeuer, eine andere, die Hölle; ein rostbraunes, stark
radiumhaltiges Gestein wird gefanden und „Submarinium“ getauft;
Lieder der Bergleute, überzeugend mi ihrem Einschlag von prosaischem
Tonfall, werden gelegentlich gesungen. An nicht wenigen Stellen aber
wächst die realistische Darstellung ins Mpthische; manchmal denkr man an
die bizarr=großen Disionen des jungen Dichters Georg Seym: „die Allan¬
schen Bohrer, die den Berg perforierten, setzten mit einem klirrenden
Schrillen ein, der Berg schrie wie tausend Kinder auf einmal in Todes¬
angst, er lachte wie ein Heer Irrsinniger, er delirierte wie ein Lazarett
von Fieberkranken, und endlich donnerte er wie große Wasserfälle.“
Und nicht nur das Technische ist dargestellt, sondern dies ungeheure
Unternehmen, das natürlich ungeheurer Gelder bedarf, ergreift die
gesamte industrielle, finanzielle und soziale Welt, alle die großen
Komplexe des modernen Lebens werden in die Darstellung einbe¬
zogen: die Reklame, das Rino, die Börse, das organisierte Prole¬
tariat, und so wird das Tunnelbuch zu einem Bpos nicht nur von
Eisen und Arbeit, sondern überhaupt von den zivilisatorischen Ge¬
walten unserer Bpoche. Und vor allem ist eine Macht in dem Buche:
Energie. Alle Führenden haben sich aus den untersten Schichten
durch viele soziale Lagerungen hindurch emporgebohrt: Allan selbst
war Pferdejunge im Kohlenschacht, Lloyd, der Milliardär, Kantinen¬
wirt, Woolf ist der Sohn eines jüdischen Leichenwäschers aus Szentes
in Ungarn. Ganz und gar ist über diesem Buch die Atmosphäre des
S. Fischer, Berlin (I1 4.50).