I, Erzählende Schriften 24, Die dreifache Warnung, Seite 2

dreifache Narnung
24. Die
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64en hcheie Theater und Musik.
Vorlesung Artur Schnitzler.
W
Zur Veranstaltung im Stephaniensaal.
Anfänglich herrschte eine latente Unruhe im Saal,
die sichtlich auch den Dichter beeinflußte. Es konnte
sich in der Erwartung ungeistiger Nebenerscheinungen
keine geistige Atmosphäre entwickeln. Der Dichter er¬
reichte keinen Kontakt und nahm das Tempo zu schnell,
die Einführung in die Situationen war zu wenig nach¬
drücklich, so daß auch die Konflikte trotz des größeren
rhetorischen Gewichtes, das Schnitzler darauf legte, nicht
voll wirkten. Im „Schicksal des Freiherrn von Leisen¬
bogh“ (aus den „Dämmerseelen“) wurde die köstlich¬
ironische Charakieristik der Figuren um Claire zu spät
empfunden. Erst als der einfältige Held der Erzählung
am Fluch seines Vorgängers zugrunde geht, kam die
heitere Grundidee ganz zur Geltung. — Als dann die
volle Tat vorüber war und die Demon¬
stranten ausgelermt halten, kehrte erst volle Stimmung
ein. Schnißser lns das Spiel „Zum großen Wurstl“
(aus den „Marionetien“), in dem er das Theater¬
publikum in lustigen kritisierenden Haupttypen ironisiert
* Demonstrationsversuch bei der Vorlesung
Arthur Schndlers. Dr. Arthur Schnitzler las gestern
aus seinen ##en im dicht besetzten Stephaniensaal.
Nachdem er die erste fein geschliffene, gedankenreiche
Legende gelesen hatte, machten sich einige Anwesende
auf eine einfachere Art bemerkbar. Ihre Außerungen
wurden rasch im Applaus begraben und die Störer
aus dem Saal geschafft. Die Vorlesung ging dann unter
großem Beifall und unter Ehrungen für den Dichter
ungestört zu Ende.
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RSIEE ERE
und ein wenig auch sich selbst und seine Probleme
(„Süße Mädel“, „Dämonische Frau").
Den Schluß machten die „Weihnachtseinkäufe“ aus
dem „Anatol“: echtester Schnitzler in der feinen Kunst
hinter halb Ausgesprochenem die Seelen zu zeigen, un¬
ausgelebte Schicksale, melancholische Resignationen,
liebenswürdige Dekadenz, dazu ferner Hintergrund der
Wiener Vorstadt, Jugend und nahendes Alter, erstes
und letztes Lieben, Hoffen und müdes Entsagen. Der
Beisall war außerordentlich stark: der Dichter mit dem
ernsten Gelehrtenkopf mußte immer wieder auf dem
Podium erlcheinen.
Dr. A. M.
Ger

Samstag, 10. Juni 1922
1N

Theater, Kunst und Literatur.
Artur Schnitzler.
er
Vorlesung aus eigenen Werken im Stephaniensaal.
Kunst wurde und wird von vielen — den meisten
nur erkannt als Füllung der Pausen des Lebens,
so
als Mittel, um sich über das Alltägliche des Lebens
für Stunden hinauszuheben in eine Welt des Un¬
tel¬
wirklichen, aus einer Welt verwirrender Bewegung,
die
rastloser Veränderung, in eine Welt der Ruhe, des
rge
Schönen, eine Welt absoluter, unwandelbarer Werte.
Wer Kunst auf diese Art versteht, versteht sie nicht.
Es gibt kein „L’art pour l’art“ (Kunst als Kelbst¬
zweck), es gibt keine Welt der absoluten Kunst, de
unabhängig, unbeeinflußt ist von allem Geschehen
ihrer Zeit. Kunst befreit, erlöst nicht, weil sie ein
dem täglichen Leben fernes Wunderreich ewiger
Schönheitswerte erschließt, sondern deshalb, weil sie
* —
Ver= die scheinbar oft sinnlosen „Zufalligkeiten“ des täg¬
lichen Lebens vom Schein des Zufalles befreit, die
des¬
betäubende Buntheit vereinfacht, klärt und all das
itzes
Unverständliche des Denkens, Fühlens und Gesche¬
trag
hens in seinen Zusammenhängen versteht als uner¬
und
bittliche Notwendigkeit. Kunst und Zufall sind un¬
ihrer
vereinbar. Der Grad des Genusses, den uns eine
was
Kunst zu bieten imstande ist, wird bestimmt durch
erech¬
das Maß des — oft auch nur gefühlsmäßigen —
lichen
Verstehens und der Erkenntnis, die sie uns vermittelt.
Unser Schönheitsbegriff, unser Schönheitsideal ist
abhängig von dem uns beherrschenden Gefühlskom¬
e und pler, der sich je nach den äußeren und inneren Erleb¬
nissen einer Zeit mit der Entwicklung der Gesell¬
eilung
schafts= und Erkenntnisformen verschiebt. Kunstwerte
istlich¬
können wir nur dann als schön empfinden, wenn wir
ig, die
das Zeiterlebnis, aus dem sie geboren sind, nicht
nur verstehen, sondern selbst wieder erleben können.
itrag: Verwandtes Schönheitsempfinden verschiedener Zei¬
erate
ten und Völker beweist mit untrüglicher Sicherheit
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und
eine Verwandtschaft in der gesellschaftlichen Struktur
setzes
dieser Zeiten oder Völker.
Zur gleichen Zeit und im selben Volk — oder
ingen
gesellschaftlich gleichentwickelten Völkergruppe — gibt
ann
es vollkommen verschiedene Kunst, verschiedenes
Schönheitsempfinden. Wenn wir diese Erscheinung in
tters
daß vergangenen Kulturepochen nicht in gleichem Maße
osen¬
beobachten können wie heute, so nur deshalb, weil
wir im allgemeinen nur die herrschende Kunstform
sehen
jener Zeiten kennen, die Kunstform und das Schön¬
inst¬
heitsempfinden der herrschenden Klasse; denn jede
nö¬
Klasse oder Kaste hat ihre eigene Kunst, so wie sie
Der
sich in ihrer inneren Entwicklung von allen anderen
urde
Klassen und Kasten unterscheidet. Ein bekanntes
wird
Beispiel aus der Vergangenheit ist der ungeheure
ihrt.
Unterschied zwischen der altägyptischen Stilkunst der
der
herrschenden Priesterklasse und dem Naluralismus
nd¬
der gleichzeitigen Dorfkunst. Heute ist die Bour¬
lasse
diese gevisie die herrschende Klasse, ihre Kunst die herr¬