I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 38

Frei
23. Der Neg in
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Aus den Untergrundbahnhöfen steigt man wie aus,
Bergwerksschachten ans Licht. Die feuchtkalte Luft da
unten gibt einen sehr fatalen Zusammenklang mit der
starren Glut da droben. Und die Schönheit der ger¬
manischen Rasse wird durch die heißen Tage auch keines¬
wegs gefördert! Die nordischen Blaßgesichter sind mit
ihrem beau-jour auf kühle Barometergrade angewiesen —.
in der Mittagsglut wirken sie wie überheizte Lampions
oder halberloschene Masken. Sie stimmen mich traurig.
Schönheit ist etwas so Schönes ..
Ja, man sollte wie Sie über Berge wandern und
auf Meeren schwimmen ..
Früher gab es für unsereinen eine erlösende Ein¬
richtung, den sogenannten Saisonschluß. Diese Grenze
hat sich total verwischt, verflüchtigt. Wer im Winter
im Engadin, in Aegyten oder Korfu war, fühlt sich
bewogen, das dadurch versäumte Quantum Geselligkeit
sich und anderen nach Ostern weiterzuliefern.
Ueberhaupt wird es mit jedem Jahr in unheim¬
licher Weise immer unruhiger auf der Welt. Gar zu
vicle Kraftfahrzeuge sausen dauernd über alle Straßen —
oben durch die Luft schweben leicht und wundersam
Luftschiffe und Ballons. Bisher sah man durch das
aufwärtsgerichtete Fernrohr nur nach Wolken und
Sternen — jetzt schwimmt alle paar Tage irgendein
guter Bekannter oben durch den Aether und verlangt,
daß man genau aufpaßt, ob er nicht vielleicht irgendwo
von oben eine steinbeschwerte Ansichtspostkarte herunter¬
wirft — Kongresse, Feste, Jubiläen überall. Es wird
mehr denn je „getagt“
mehr denn je erreicht, be¬
sonders von den Frauen und den Technikern. Alles
strengt sich fieberhaft an. Den Begriff der Sommer¬
stille gibt es gar nicht mehr.
Flucht aus der Stadt verhilft auch keineswegs dazu.
Wer sich nach dem Rezept „Rückkehr zur Natur“ irgend¬
einen grünen Winkel in Mecklenburg oder ein Bauern¬
dorf in der so lang verkannten und jetzt malerisch so
hachbewerteten Lüneburger Heide ausgesucht hat, kann
es erleben, daß ausgerechnet durch dies Nest eine große
Konkurrenzfahrt von Automobilen saust. Seitab vom
Briefe eines modernen Mädchens.
Schienenstrang zu sein, ist gar keine Garantie mehr.
Berlin, den 24. Juni.
Durch die weltabgeschiedensten Pappelalleen faucht und
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Mein lieber Freund!
staubt es unvermutet hindurch, und nirgends gibt es
Sie schwärmen für die heißen Tage und behaupten,
ein Dorf, in dem nicht doch ein Telephon wäre, durch
daß die Glut Ihre Produktionskraft steigere . .. bei
das unvermutet ein verabredungshungriger Bekannter
mir steigert sie nur den Konsum an Zitronenlimonaden!
über hundert Meilen weg einen aus dem Schlaf schreckt.
Meine geistigen Fähigkeiten legt sie gänzlich brach —
Wer Ruhe haben will, muß schon nach Island fahren
mein Gehirn kommt mir vor wie ein ausgehängtes
zur Ultima Thule!
Telephon — mir ist so zumute, als hätte ich ein paar
Ich finde wirklich, daß sich die Position des Menschen
Jahre in Samoa gelebt und wäre da so sacht „ver¬
auf der Erde stark verschlechtert. Es müßte wenigstens
kanakert“.
besondere Entschädigungen geben für die Ueberarbeit,
Nein, ich hasse diese deutsche Hitze, die so stoßweise
die sein Gehirn täglich zu leisten hat, allein schon um
kommt!
alles, was passiert, in sich aufzunehmen — so eine Art
Hitze lasse ich mir allenfalls in Italien gefallen
Extragratifikation, wie der Angestellte sie für Ueber¬
jene leichte, berechtigte südliche Hitze, in deren glühende
stunden erhält.
Luft Glockentürme und Palmen, Sarazenenburgen und
Aber wo meinen Sie, sind diese Aequivalente?
Bergeslinien so fein abgesetzt hineinsteigen.
Vielleicht in dem gesteigerten Durst nach einer an¬
Aber den großen Städten im Vaterland stehen die
deren Form des Lebens — in der doppelten Genu߬
hohen Temperaturgrade nicht! Sie entkräften die Bäume,
fähigkeit aller Kulturmüden, mit denen sie jene Dinge
so daß sie versengt und entnervt am Wege stehen wie
erfassen, die nicht künstlich, nicht auf Asphalt getrieben
blutarme Wanderer, die nicht weiterkommen. Was an
sind, sondern echte, erdgeborene Produkte der Natur.
den Straßen und Plätzen blüht, auf den künstlich hin¬
Die Seligkeit des Großstadtmenschen, der ein Huhn
gesetzten Rabatten, das hängt müde und schlapp die
über eine Dorfgasse flattern sieht (kein Perlhuhn des
Köpse — der Kontakt u. der kraftspendenden Mutter
Zoologischen Gartens, kein Huhn mit Reis auf der
Erde fehlt eben den Blumen, die auf Asphalt zu blühen
Zinnschüssel eines Restaurants, sondern ein richtiges,
verdammt sind ...
veritables Hühnerhofhuhn — gewissermaßen das Huhn
an sich) hat für mich nachgerade weniger etwas Komisches
als etwas Rührendes!
Den Atem des Windes wie Wellen über wogende
Kornfelder streichen zu sehen, das gelbe, frischgespaltene
Holz in einer Bergeswaldsäge zu riechen — diese ganz
einfachen Erscheinungsformen der Natur, die immer
waren und sein werden, haben gerade für den, der
lange verdammt war, zwischen heißen Steinen zu leben,
Wir sind nur ruckweise moder
dieses Sommers.
Uebrigens kommt mir nachgera
recht unmodern geworden vor!
Bitte, überlegen Sie doch m
nendes, leise schmeichelndes Adjekt
Ihre som