I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 76

23. Der Net
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(Quellenangabe ohne Gewähr.)
6 Ausschnitt aus: Unien (Früher Politik) Prag
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Ee vom: 10.A05 1908

Tageschronik.
Auf die Stimmung im deutschen Lager wirft der
keueste Roman des bekannten Schriftstellers Artur Schnitzler
„Der Weg ins Freie“ interessante Streiflichter. sind
dies Aeußerungen eines politischen Pessimismus, ja eines
Ekels in der ganzen Politik, wie sie zur Zeit im Namen
des deutschen Volkes getrieben wird. „Der Ekel vor einem
Parlament — wir zitieren nach dem hiesigen „Montagsblatt“ —
das alle menschlichen und kulturellen Empfindungen verletzte,
der Abscheu vor dem simplen Handwerkzeug der Berufspolitiker
und Versammlungsschwätzer, der Widerwille gegen die abge¬
standenen Phrasen der sterilen Parteien — das alles ist in dieser
Stimmung enthalten. Oft sind es nur ganz kleine Bildchen, die
neben der Haupthandlung an uns vorüberhuschen, aber in ihnen
ist der ganze Schmutz und wüste Lärm enthalten, mit welchem
die in Oesterreich momentan mächtigste Partei Wien über¬
schwemmte und eroberte. Was aber dem Buch einen beson¬
deren Wert gibt, ist das Bild von der intimeren Wirkung der
Polikik. Man sieht sozusagen die feinen Aederchen, in denen der
Geist von 1908 bis ins Innere der Bürgerstuben sickert, und
man sieht das organische Gewebe dieser herrlichen Pflanze, so
da christlich=soziale Partei genannt. Aber auch ein Bildchen aus
[Deutschböhmens Gefilden wird man im Schnitzler¬
schen Roman finden, und wer die Historie der völkischen Be¬
wegung im Kopfe hat, wird gestehen müssen, daß es vortrefflich
gelungen ist. Es ist jenes Bildchen von dem alten liberalen Arzt
in der kleinen Stadt Böhmens, der sich nach einer Zeit der Be¬
liebtheit vor dem Anwachsen der antisemitischen Bewegung aus
der deutsch=liberalen Partei herausgedrängt und von seinen
Freunden verraten und verlassen sieht. „Ein verbummelte
Koulleurstudent, der in den Versammlungen Juden und Cechen
als die gefährlichsten Feinde deutscher Zucht und Sitte hinstellt,
daheim seine Frau verprügelt und seinen Mägden Kinder macht,
wird der Nachfolger im Vertrauen der Wähler und im Parla¬
ment.“ Das ist die Charakteristik der beiden deutschen Haupt¬
parteien, welche mit einander in chauvinistischen Hetzen gegen
die bloße Existenz des böhmischen Volkes konkurrieren. Wir be¬
greifen es, daß solche Politiker nach und nach auch im deutschen
Lager ihre richtige Beurteilung finden und es ist zweifellos ein
Verdienst Schnitzlers, daß er dieser Partei der Zukunft das
Wort verliehen hat.
* Es.f. Ost.
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(Quellenangabe ohne Gewähr.)
= Ausschnitt ar
812 P Hamburger Fremdenblatt
E vom:
Der Weg ins Freie. Roman von Arthur
chnitler. S. Fischer, Verlag.

1
Dieser Roman Neu=Wiens verdient eine
besondere Aufmerlsamkeit, nicht nur, weil er
der erste große Roman des berühmten Einakter¬
Dichters überhaupt ist.
Zwar besitzt er die
Qualifizierung zu einem „Roman“ im geläufigen
Sinne nicht; dazu ist er technisch viel zu wenig
geschlossen, nach äußeren Momenten, sogenann¬
ten Höhenpunkten, gemessen zu handlungsarm
und zu undramatisch. Viel eher ist er
eine
besonders weit ausgesponnene Gesellschaftsstudie
mit großen lyrisch=psychologischen und sozial¬
philosophischen Partien. Aber die dichterische
Wärme, die in den allermeisten Einzelheiten
atmet, die Tiefe, in die diese Seelenforschung
hinabführt und die schlagende Wahrheit der
Lebensbeobachtung, die mit feinster Ironie ver¬
setzt ist, stempelt diese Studie doch zu einem
modernen Prosaworte ganz besonderen Nanges.
Daß der Dialog einen hervorragenden Raum
darin einnimmt und meisterhaft gehandhabt ist,
wird von dem Dramatiker der fein geschliffenen
geistreichen Wechselrede nicht weiter wunder¬
nehmen. Die Fabel des Romans ist mehr als
einfach: das Sichfinden und =verlieren zweier
echt Wiener Seelen, des Freiherrn Georg von
Wergenthin und der bürgerlichen Anna Rosner.
Sie ist aber zugleich die Fabel des stark begab¬
ten, aber nicht genial veranlagten Wiener
Künstlers, der ohne rechten Willen, ohne selbst¬
bewußte Kraft und ohne Fleiß seinen künstle¬
rischen „Weg ins Freie“ sucht u.d ihn eigentlich
wie durch ein Wunder nur, im wesentlichen
durch den Zauber seines Standes, seiner äußer¬
lich harmonischen Persönlichkeit und seiner
Manieren findet.
Der Dichter hat es so gewollt — um feiner
ganz besonderen Absicht willen — daß dieser
freiherrliche Künstler sich fast ausschließlich in
den jüdischen Sphären der Wiener Gesellschaft
bewegt. Das gibt Schnitzler Gelegenheit, diese
ganze Schicht unserer Moderne in einer fast
lückenlosen Reihe von Typen zu zeichnen: ein
Zeitbild von eigenartiger Wirkung und, wie
nicht zu leugnen, von frappierender Wahrheit.
Der Titel dieses Buches bewährt sich auch in
diesem Wesensteil: fast alle Gestalten, die der
Dichter hier vorführt, suchen aus ihrem Juden¬
tum oder für ihr Judentum einen „Weg ins
Freie", eine jede auf ganz eigene Art. So
wenig diese ganze soziale Schicht mit der des
Haupthelden innerlich organisch zusammenhängt,
o wenig ist das im Grunde technisch der Liebes¬
fabel gegenüber der Fall. Aber die feine, halb
lächelnde, halb tragische Art des Dichters, die
über dem Ganzen waltet, läßt bei der Lektüre
die Schwächen verschwinden, sie bestrickt, inter¬
essiert, fesselt und macht uns träumen.
J. Auerbach.

Neute Ritck##.
7