I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 84

Ne
ins
Fre
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23. Der
auber. Aber bis ins kleinste genau fixiert Schnitzler
in Bild: „Die Augen, wenn sie nicht eben mit einiger
lbsicht gütig oder klug schauten“..
Der Berliner Kritiker Monty Jacobs nennt
as ganze Weh und Ach des Buches „zwecklose Erörte¬
ungen“. Und es ist wahr: die geistvollen Erörterungen,
ie wundervollen Beobachtungen, die haarscharfen In¬
ividualisierungen und überzeugenden Typisierungen
aben keinen anderen Zweck außer dem einen, daß sie
ich Selbstzweck sind. Ein subjektiver Zweck des Dichters
var's zuerst, daraus wurde durch die Kraft der Gestal¬
ung ein künstlerischer. Doch irgend einen Ausweg für
das Judentum, den „Weg ins Freie“, suchte Schnitzler
jar nicht. Er wandelte und beschaute.
Das Buch ist ein sehr kontemplativer Roman, ohne
ein starkes Agens. Das Zuständliche und das Reflekto¬
rische bilden weitaus sein übergewicht. In der Hülle
(oder ist das Gesellschaftsbild der Kern?) steckt aller¬
dings auch ein persönliches Schicksal. Schnitzler hat
bisher nur ganz wenige lyrische Gedichte veröffentlicht.
Eines kenn' ich. Ein Mann, dem die Liebe erloschen ist,
küßt sein Mädchen, das noch heiß an diese Liebe glaubt.
Eigentlich ist es auch das Thema von Schnitzlers „Liebe¬
lei“: ein Mädchen gibt sein ganzes Menschendasein hin
für eine Episode des Mannes. In ber „Liebelei“ klingt
der tiefe Unterton der Reue mit. In dem neuen Buche
heißt diese Grausamkeit (vielleicht nicht des Mannes,
vielleicht nur der Natur) „der Weg ins Freie“. Schnitzler
ist weit davon entfernt, Thesen der Herrenmoral auf¬
zustellen, nicht minder aber davon, mit romantischem
Optimismus die Natur zu korrigieren. Er sieht, wie die
Dinge so vorübergleiten; wie die Kurve der Leidenschaft
Schnitzler hat versucht, den feinfühligen Egoisten,
teigt — und fällt . .. Nun ja: dieser Georg von
ohne das psychologische Beweisverfahren zu trüben, der
Wergenthin glaubt Anna Rosner zu lieben. Er handelt
Sympathie näherzurücken. Durch Wergenthins „Sen¬
nicht vorsätzlich üblel an ihr. Er tut nichts gegen sein
dung“, durch sein Künstlertum. Ein Refler der Sesen¬
Herz. Bloß daß dieses Herz nicht fähig ist, die Wärme
heimer Idylle, ein Anruf an die Selbstrettung de¬
zu halten. Er tötet nicht die Lieb' und Treue; doch
jungen Goetheschen Genius sollte helfen. Das ist, dank
Lieb' und Treue verlöschen in ihm. Die Moral, unter
der Ehrlichkeit des Dichters, mißglückt. Er verschmähte
der die freieste Liebe steht, verpflichtet jeden, die Kon¬
es doch, unbeweisbare Rechte des Genies zu imaginieren.
sequenzen seiner Handlungen zu tragen. Keiner hat das
Unter seiner Fürsorge für die innere Wahrheit geriet
Recht, um seiner selbst willen den anderen zu vernichten.
der Künstler Wergenthin nur bis zum Mittelmaß eines
Die hohe Ethik eines freien Liebesbundes fordert die
Dilettanten der Kunst und der Liebe. Dagegen schwebt
Lösung, wenn die Liebe schwindet. Denn die Wahrheit
ein seraphischer Glanz um die schlichte, tapfere Weid¬
des Gefühls soll das Allerheiligste sein. Aber wenn
lichkeit der Anna Rosner. Ist sie im Leben zu finden,
das eine von zwei Herzen bricht, während das andere
so ist sie die erste der stillen Märtyrerinnen. Sie allein
bloß erkaltet . . .? Auch hier ein unlösbares Problem;
in der Dichtung gewährt dem Herzen des Lesers Helle
kein „Weg ins Freie“.
und Wärme. Sich an ihr zu erheben, hindert aber ihr
Nun ja: dieser Georg von Wergenthin wäre bereit
klägliches Los. Welch ein Weg durch welch eine Welt!
gewesen, die Konsequenzen zu tragen. Er hätte die
Wenn am Saume des Weges die lieblichsten Blumen
Mutter seines toten Kindes mit erloschener Liebe sich
fruchtlos verderben ... Ein Weg ins Freie?
dauernd verbunden, wenn sie ihr verlorenes Leben ihm
Die Liebesgeschichte des Romans wäre alltäglich,
aufs Gewissen gebunden hätte. Doch gibt es hochherzige
würde sie nicht erfüllt sein von subtilen Schönheiten.
Wesen von höchster Liebesfähigkeit, die an solchem Gifte
Nicht gerade lyrisch=ästhetischen Schönheiten. Die Stellen,
des Kompromisses nur noch jammervoller zu Grunde
auf denen Auge und Sinn des Lesers länger weilen,
gehen... Anna öffnet dem Geliebten den — Weg
entschleiern Geheimes, sind voll eindringlicher Erfahren¬
ins Freie ... (Wie banal wärd hier die Deutung des
heit.
Ist das ein Roman? Man darf das Wort immerhin
Wortes!) Und er, der verfeinte Asthet mit doch so
robustem Gewissen, flieht. — Dort ein stummes, über¬
gelten lassen. Vom Worte hängt nichts ab. Romane
menschlich liebevolles Entsagen; hier der Egoismus mit
schreiten aus. Der Dichter, der mit dieser Beichte sich
ein bißchen nichtsnutziger Melancholie. Neben der inner¬
befreite, wandelte still vor sich hin. Wir kennen ihn;
lichen Mittelmäßigkeit des Mannes und in ihr freilich
wir erkennen ihn wieder: als den gedankenvollsten und
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nachdenklichsten Betrachter.
auch so etwas wie ein Naturgesetz.