I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 86

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Fre
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ins
23. Der
ge AaieTeie
baren Todfeind, den sie in sich tragen; irgend
füllend als erfüllend, tragen alle diese auftauchen¬
etwas fanatisch zu lieben, das ihnen fremd ist und
Eden und wieder verschwindenden Figuren ein
wie ein Wurm an ihrer inneren Kraft nagt.
eigenes Seelengepräge, das bei jeder einzelnen,
Es sind lauter Juden. Zumeist reiche Juden,
von der Persönlichkeit durchflossen, verschieden,
die alle Segnungen westeuropäischer Zivilisation
individuell erscheint, das aber im wesentlichen
mit hastigen Zügen in sich getrunken haben und
einen gemeinsamen Zug trägt. Eine sentimentalisch
im Innern verorbeitet, als eine kränklich-ver¬
ungeklärte Innenkultur, tiefblickende Lebens¬
geistigte Schönheitskultur von sich geben. Denn
erfassung ohne wegweisende Klarheit. Es ist elwas
schliesslicl ist jede Kulur innerlich verarbeitete
Schwankendes, Unlogisches in allen diesen
Zivilisation, von Seele durchtränkter Tatsachen¬
Menschen, die ihre eigene Seele bis in die tiefsten
Fortschritt.
Fältchen durchleuchten und doch nie wissen, was
Eine rätselhafte Kultur. An Schönheit und
sie wollen. Der Dichter Bermann mit seiner
Geist vollends gesättigt. Voll Güte und Milde. Und
genialen Phantasie, seinem „herrlichen Verstehen“
doch blass, blass und blutleer, entwicklungs¬
sagt selbst, dass er bei jeder Tat zwischen Ver¬
unfähig, tot.
herrlichen und Verdammen schwankt; er findet
Und mit einem Male kommt mir das wunder¬
sie gut, und sieht er tiefer in sein Ich, schlecht.
schöne tote Kind in den Sinn, das die bodenständig¬
Und fnoch tiefer wieder gut und wieder schlecht.
klare Anna Rosner dem übergeistigt-traum¬
Und wenn schliesslich „alle Stockwerke seiner
verlornen Georg gebar. Und mit einem Male alle
Seele“ beleuchtet sind, ist er ein Wohltäter und
die schmerzenden Risse und Zuckungen, mit
Tyrann, ein Bettler und König, ein Narr und
denen sich bei diesen beiden, die ein Totes
Weiser zugleich. Oder der geistvolle, scheu¬
schufen, das Voneinanderlösen vollzieht. Und mir
Esärkastische Nürnberger, der allem und allen
ist es, als ob alle diese seltsamen Menschen, die
Emisstraut, schliesslich sich selbst und seinem eigenen
alles geniessen können und in nichts ein reines
Misstrauen. Und die dunkle Else Ehrenberg,
Glück empfinden, sich lostrennen wollten von
bei der sich eine verhalten-flammende Sinnlichkeit
etwas Fremdem, das sie abgöttisch geliebt, das
mit klug-grüblerischer Kälte paart. Und die So¬
ihnen aber ein Totes gebar.
ziallstin Therese, die ihr Leben dem Proletariat
Wie Georg aus eben den kämpfenden,
begeistert hingibt, unterbrochen durch eine frivole
brodelnden Empfindungen hinaus, immer stärker
Liebesreise mit einem interessanten Kavalier. Und
die grenzenlose Sehnsucht nach dem Weg ins
alle die anderen. Ein umschleiertes, opalisierendes
Eigne, den Weg ins Freie aufflackern fühlt,
Seelenspiel. Seltsam, von einer ergreifenden Schön¬
so ringen alle diese glücklich-unglücklichen
heit, aber krank, tief krank. Alle die Menschen
scheinen zu ringen, zu kämpfen mit einem unsicht-] Seelen, um sich von unsichtbaren Fesseln aus
dem Dunkeln, Verschwommenen, Ungesunden
ins Freie, Ganze, Reine zu retten.
Der eine sieht das Heil in unendlicher
Menschheitsevolution, der andere in greifbarer
Absonderung, der dritte durch die Lösung im
eignen Innern. Aber alle suchen den Weg,
lechzen nach der Freie.
Ehe Georg von Wergenthin hinauszieht,
wo ihm die goldenen Klänge der Ferne entgegen¬
rauschen, sieht er auf dem Grabe seines Kindes
grosse, dunkelrote, ernste Rosen; Anna hatte sie
von ihm in der Stunde des Abschieds genommen
und auf den traurigen Hügel gelegt.
Vielleicht ist das herrliche Werk Artur
Schnitzlers, die grosse dunkelrote, ernste Rose, die
der Dichter auf dem Grabe einer toten Kultur
niederlegt, da er ihn ahnt, den Weg ins Freie.
Allerlei.
Kopfindex der polnischen Juden. Wie
Balyvezki-Bindiä in einem Vortrage: Der Kopf¬
index der Slaven, Letto-Littauen u. a. auf Grund
von Messungen an russischen Soldaten in der
russisch-anthropologischen Gesellschaft in Peters¬
burg ausführt, zeigen die Juden (92 Beobachtungen),
eine gewisse Achnlichkeit des Kopfindex mit dem
Index der Slaven, unter denen sie leben, mit den
Polen. Brachyzephal waren 56,50, dolichozephal
29,60, während sich unter den Polen 59,19 Pro¬
zent Brachyzephale und 18.58 Prozent Dolicho¬
zephale befanden. (Archiv für Anthropologie 1908.)