I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 96

Ne
ins Freie
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23. D
Aenenenn — Fr unenentnen
Kapitel für sich selbst wieder ein Kunstwerk. Und weich
und sanft, wie die Teile, klingt das Ganze aus: Georg hat
noch einmal Salmannsdorf, den Sommerhaidenweg und den
Neustifter Friedhof, wo sein Kind den ewigen Schlaf schläft,
besucht. Dann wendet er sich für lange — er hat einen mehr¬
jährigen Vertrag nach Detmold unterzeichnet —, vielleicht
für immer zum Gehen. „Über die rötlichgelben Hügel, die
die Landschaft abschlossen, sank der Himmel im matten Herbst¬
schein. In Georgs Seele war ein mildes Abschiednehmen
von mancherlei Glück und Leid, die er in dem Tal, das er
nun für lange verließ, gleichsam verhallen hörte; und zu¬
gleich ein Grüßen unbekannter Tage, die aus der Weite der
Welt seiner Jugend entgegenklangen.“
Auch die Sprache des Romanes ist die eines guten
Erzählers, lebendig, flüssig, den Personen und Situationen
meisterhaft angeschmiegt. Um so mehr stören einige Nach¬
lässigkeiten, die zu rügen nicht kleinlich sein dürfte, weil
sich mancher Zweifelnde gerade bei Sprachsünden nach den
Dichtern richtet.
Wenn wir zum Ganzen zurückkehren, so kommen wir
zu dem Ende: einen „Weg ins Freie“ vermochte uns der
Dichter nicht zu weisen. Aber auf dem Weg, den er uns
führt, gibt es lauschige Winkel, wundervolle Ruheplätze mit
märchenhaften Fernsichten, Sonnenspiel und kühlen Schatten,
kurz, Schönheit genug, daß es sich lohnt, mit dem freund¬
lichen Führer zu wandern. Und sind wir dann bei Been¬
digung der gemeinsamen Wanderschaft auch nicht ins Freie
gelangt, wie uns der Geleiter verheißen hatte, so haben wir
deswegen doch unsere Zuversicht in seine Führung nicht ver¬
loren und werden uns ihm ein nächstes Mal — hoffentlich
recht bald! — mit unvermindertem Respekt und mit gleich¬
großer Erwartung wiederum anvertrauen!

Der Pfarrer von Oeldern.
Novelle von Karl Busse.
Es war ein wundervoller Herbsttag, als der Tkauerzug
zum dörflichen Friedhof hinausging. Man begrub den
Pfarrer, der ein ganzes Menschenleben hindurch hier gelebt#
und gearbeitet hatte. Außer den notwendigsten, zur Aufsicht#
bestimmten Leuten war niemand im Dorfe zurückgeblieben.
Alles wollte dem alten Pastor die letzte Ehre geben. Die
Bauerngärten waren geplündert worden: kahl und blumen¬d
leer waren sie nun. Denn die letzten Blüten schmückten den #
Sarg oder grüßten aus Kränzen Flachsköpfe, die kaum d
laufen konnten, gebeugte Greise, die sich mühsam fortschlepp¬t
ten, stattliche Männer und Fkauen, die gewichtig einher=
schritten — sie alle waren im=uge vertreten. Auch eine Reihe
von Amtsbrüdern des Verstörbegen war herbeigeeilt.
Dicht hinter dem Sarge schritt der Pfarrer, der die
Rede am Grabe halten'sollte. Ihm'zur Seite die auch schon#
gebeugte Schwester und der Pflegesohn des nun Ruhenden. #t
Hinterdrein kam, mit gesenktem Haupt, der alte Baron#
Glambeck, der Pakron der Kirche.
Der Frieghöf lag etwas erhöht: so sah man weit hinaus.
Blaue Seen leuchteten herüber, hinter denen braunrot die
herbstlichen Buchenwälder standen. Gefleckte Kühe weideten
auf der anderen Seite, und nur den Peitschenkaall ihres
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wir verzichten, etwas aus dem „unbekannten Lande zu er¬
fahren, aus dem kein Wanderer zurückkehrt.“
Die altbiblischen Gesetze bestimmen für Kapitalverbrechen:
Hinrichtung durch Schwert (nicht Block), Erhängen, Ver¬
brennen, Steinigen. Die Tradition fügt noch hinzu Er¬
würgen. Strittig war, welche Todesart die humanere und in
welcher Weise Verlrennen und Steinigen mit Rücksicht auf
möglichste Milde zu vollziehen war. Die Mischnah=Lehrer
haben sich dabei aber auf die damaligen Kenntnisse der
Medizin gestützt, und ihre Ansichten können infolgedessen nicht
für dauernd maßgebend angesehen, sondern auf Grund
besseren Verständnisses der Lebensvorgänge rektifiziert werden.
Immer mehr bricht sich die von dem Verfasser seit
dreißig Jahren verfochtene These, oaß wie die Bibel lehrt, das
Blut — nicht die Zelle — das Leben, physisches und geistiges,
vermittelt, Bahn. Auch der Tod erfolgt erst mit dem Er¬
löschen der Fähigkeit des Blutes, die Organe lebendig zu
erhalten. Die Tradition zeigt leider schmerzhafte Lücken. Die
Umwälzung der neueren Medizin datiert von der Entdeckung
des Blutkreislaufs. Und doch mußte schon den Patriarchen
bekannt sein, daß das Blut in einem geschlossenen System
zirkuliert, dessen Eröffnung an einer Stelle es mehr oder
weniger zum Ausfließen bringt, den Tod bedingt. Darum ist
ja Schlachten die humanste Todesart, weil sofort in ergiebigster
Weise der Körper, zunächst das Gehirn blutleer wird, womit
zugleich auch das Bewußtsein erlischt. Mindestens schon in
der Wüste mußte es bekannt sein, daß das Tier durch
Schlachten entblutet wird, da der mit Ausrottung bedrohte
Genuß des Blutes bei auf andere Weise getöteten Tieren
unvermeidlich gewesen wäre. Und wie sollten in früherer Zeit
angesichts der biblischen Auffassung des Blutes Opfer gebracht
worden sein, bei denen das Blut — NB. das lebenskräftige
Schlagaderblut — noch zum Teil im Körper war! Ein ein¬
facher Blick auf die Opfergesetze, auf die Rolle des Blutes
genügt, um da Vorhergehende zu beweisen. Durch jede
andere Todesart leibt noch ein Quantum Blut im Gehirn;
und Eindruck von außen, namentlich der Schmerz bei Durch¬
schneidung des Rückenmarks, beim Verbrennen der Eingeweide
durch geschmolzenes Blei, beim Hinabstürzen und Werfen mit
Steinen, beim Erwürgen und Hängen wird noch gefühlt.
Wie lange? Doch wohl so lange, als das Herz von dem
Blute aus zum Schlagen gebracht wird, beziehungsweise durch
künstliche Mittel oder, nach einer Pause spontan, gebracht
werden kann. Und das ist schon nach einer ganzen Zeit —
bis zwölf Minuten — konstatiert worden. Hiernach ist die
Ordnung der Weisen unrichtig: Schächten, wie gegen die
Ephrasmiten oder Benjamiten (Richter XX, 21) die mildeste
Todesart; Verbrennen durch Feuer (gleich Ersticken durch
Kohlenoxyd und Dampf), milder als Verbrennen der Ein¬
geweide.

Zwei neue Komane.
Von Professor Dr. Ludwig Geiger.
Der große Roman des beliebten und hochbegabten
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Dramatikers!) scheint in seiner Heimat Wien und auch
anderwärts großen Erfolg zu haben, denn von dem erst im
Mai oder Juni ausgedruckten Buche, das ursprünglich in
1) Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie. Roman. S. Fischer,
Berlin 1908.