I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 98

seine politische Laufbahn aufgibt, und noch weniger deutlich,
bedacht wäre, dem Leser zuzurufen: Nehmi's nur nicht ernst,
warum er mitten aus den Pariser Arbeiten nach Wien zurück¬
es ist ja doch alles nur Scherz oder — Schwindel.
kehrt und die Politik wieder aufnimmt, die er eben aufge¬
Und so, glaube ich, wird man auch den Titel des Romans:
geben hatte.
„Der Weg ins Freie“ als eine Blague — um einen unüber¬
Wenn die feigen Ueberläufer oder die starren Getreuen
setzbaren französischen Ausdruck zu brauchen — auf¬
uns eher abstoßen als anregen, die Tätigen und die Liebens¬
fassen dürfen. Der Weg ins Freie — ja welche von den
würdigen höchstens unseren Verstand beschäftigen, nicht
Figuren des Romans geht ihn denn eigentlich? Etwa Leo
unser Herz, so sind die anderen gleichfalls höchstens dazu
Golowski, der ein eifriger Zionist ist und doch ganz hübsch in
geeignet, unser vorübergehendes Interesse hervorzurufen.
Wien bleibt? Oder die erwähnten Schriftsteller, die alles
Das sind ganz besonders die Schriftsteller. In der
ironisieren und doch von ihrem Kaffeehaus und ihrem Prater
Schilderung dieser Literaten, bei denen es nicht immer ganz
sich nicht trennen können? Oder Else Ehrenberg, die alles
klar wird, ob es wirklich Juden sind, z. B. dem jungen Poeten
um sich her versteht, duldet, vielleicht sogar etwas Aehnliches
Winternitz, der als Dramaturg nach Berlin geht, oder dem
mitmachen möchte, wenn sich die Gelegenheit dazu böte und
Kritiker Gleißner, der, nachdem er eine Weile über Theater¬
schließlich einen reichen Glaubensgenossen heiratet, weil dieser
stücke referiert hatte, nun mit weiblichen Seelen operieren
Geld genug hat, ihre Launen zu befriedigen, eine passable
will, treten namentlich zwei hervor: Heinrich Beermann und
Figur macht und mit englischem Akzent spricht? Oder Anna
Nürnberger. In der Charakteristik dieser beiden hat Schnitzler
Rosner, die, nachdem sie einige Minuten Mutterfreuden
jedenfalls sein Bestes gegeben und, wie ich vermute, aus dem
gekostet, ihre Klavierstunden weiter gibt, als wäre gar nichts
Leben gegriffen. Wohl unterrichtete Wiener werden wohl auch
weiter passiert und endlich doch vielleicht die Gattin von
bei anderen Partien und Personen des Buches imstande sein,
Berthold Stauber wird, dessen Lebensmotto man mit den
uns die Urbilder zu nennen, die abkonterfeit, und die Vor¬
geflügelten Worten lbezeichnen mag: „Ich kann warten!“
gänge anzudeuten, die etwas frei wiedergegeben sind; bei
Oder vielleicht Georg von Werkenthin, der, nachdem er gleich¬
diesen beiden bin ich fast sicher, daß zu ihrer Zeichnung
falls geduldig gewartet, möglicherweise wirklich Kapellmeister
lebende Modelle benutzt sind, gewiß nicht mit photographischer
in Detmold wird und dort, soweit es in der kleinen Residenz
Treue, aber doch so, daß viele Züge dem wirklichen Leben
möglich ist, sein Hauptgeschäft weiter betreiben wird: das Herz
brechen, oder richtiger: das glückliche Bestehen von Alkoven¬
entnommen sind. Rein technisch sind diese Schilderungen
abenteuern?
meisterhaft. Nürnberger hatte vor einigen Jahren einen Roman,
Sie alle und ebenso die übrigen Figuren des Romans
sein Lebenswerk, geschaffen, in dem er das ganze moderne
wollen ja gar nicht ins Freie, weil sie überhaupt kein Gesetz
Oesterreich dargestellt hatte, mit seinen Kämpfen, Freuden
kannten und kennen, das sie beengt.
und in seiner Zerrissenheit und Hoffnungslosigkeit. Seitdem
Und sollte etwa der Titel des Rowans sich auf das
gefällt er sich in schneidender Ironisierung aller menschlichen
Verhältnisse, ein moderner Diogenes in seiner Dachkammer,
Judentum und seine Bekenner beziehen? Auch davon keine
Spur. Wohl finden sich in den Gesprächen über jüdische
und doch bereit, ganz gegen das Beispiel seines Vorbildes, sich
Dinge, die zahlreich vorkommen, gelegentlich begeisterte Lob¬
von reichen Freunden zu Prunkmählern laden und zu glänzenden
Reisen abholen zu lassen.
preisungen des Zionismus (Seite 133ff) oder starre Aus¬
sprüche echt jüdischen Nationalstolzes (Seite 174), feine Be¬
Der zweite, Heinrich Beermann, ist eine sehr komplizierte
merkungen über die Jnden unter sich (Seite 186) oder über
Natur, ein fähiger Schriftsteller, der in einzelnen Skizzen und
jüdische Sentimentalilät (Seite 237) und anderes, aber den
Dramen Glück gehabt hat, ein talentvoller Autor, der
Weg ins Freie finden auch die Juden nicht, ja sie suchen ihn
von dem Rechte des Dichters, stoßweise zu produzieren
vielleicht nicht einmal. Höchstens wandeln sie den Pfad, den
h. ergiebig zu faulenzen — nur allzu reich¬
so viele Tausende vor ihnen gegangen sind, das heißt sie
lichen Gebrauch macht. Meist tut er nichts, dann arbeitet
äffen den Christen nach und lassen sich taufen oder sie ähneln
er in krampfhafter Hast gleichzeitig an einer romantischen
den vielen hundert Jüngeren, indem sie sich gleich ihnen zu
Oper und einer politischen Komödie. Als Mensch hat er
einem theoretisch krassen Zionismus bekennen und mit Wonne
Erfolg in der Gesellschaft und Glück bei den Frauen. Aber
ihre behagliche Daseinsfreudigkeit fortsetzen, oder — und das
es ist ein Herr, bei welchem dem Leser recht wenig wohl wird.
sind die wenigsten — sie beschreiten still die steile und dornige
Sein einst berühmter Vater stirbt im Irrenhause; durch dieses
Straße, die zur Assimilation führt, aber nicht pflicht= und
tragische Ereignis, das alle anderen erschüttert, erleidet der
zielbewußt, sondern in der Erkenntnis, daß sie sie doch nicht zu
Sohn kaum eine Gemütsbewegung; eine Schauspielerin, mit
einem gedeihlichen Resultat gelangen lassen kann. Denn also
der er lange zusammengelebt hat, ertränkt sich infolge der
lautet das Bekenntnis des Geistreichsten und Unsympathischsten
Kühle, ja der Verachtung, mit der er sie behandelt: die einzige
aus der ganzen Schar: „Assimilation ... ein Wort .... ja sie
Empfindung, die er, der doch der Hauptleidtragende sein
wird wohl kommen irgend einmal . .. in sehr, sehr langer
müßte, in sich fühlt, ist die der peinlichen Störung in seinen
Zeit. Sie wird ja nicht so kommen, wie manche sie wünschen
Lebensgewohnheiten, die Unlust an der unangenehmen Nacht¬
nicht so, wie manche sie fürchten... es wird auch nicht
fahrt in Gesellschaft der Mutter der Selbstmörderin.
gerade Assimilation sein... aber vielleicht etwas, das so zu
Beide Schriftsteller sind geistreiche Menschen; ihre
sagen im Herzen dieses Wortes schlägt. Wissen Sie, was sich
Plandereien über Menschen, Bücher, öffentliche und jüdische
wahrscheinlich am Ende herausstellen wird? Daß wir, wir
Verhältnisse sind originell und anregend.
Inden meine ich, gewissermaßen ein Menschheitsferment ge¬
Bei allen Figuren des Romans, den wenigen Christen
wesen sind — ja das wird vielleicht herauskommen in 1000
und den vielen Juden, empfängt man immer den gleichen
bis 2000 Jahren.“
Eindruck: der Autor operiert nur mit dem Geist, nicht mit
Bescheidene Leute mögen sich damit begnügen. Wir
der Seele. Ja, noch mehr: es steckt in der Darstellung aller
anderen aber haben kein Behagen an einem Wechsel von so
dieser Typen nicht nur Sachlichkeit und Objektivität, sondern
langer Sicht. Wir, die wir wissen, daß uns nur kurze andert¬
ein gut Stück Ironie. Es ist, als wenn der Verfasser immer halb Jahrhunderte von Mendelssohns ersten rühmlichen An¬