I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 99

418
strengungen trennen, wir sind überzeugt, daß ein gut Stück
Schiebkarren zu kaufen und allerlei Weiberputz. Das wollte
Weges zurückgelegt ist. Wir sehen den Weg ins Freie weder
er dann im jüdischen Viertel auf der Straße verkaufen und
in einem Spaziergang noch in einer Wallfahrt nach Jerusalem,
sparen, immer sparen, bis es zu einem Lädchen in der
aber ebensowenig in dem Hineinpurzeln in Ungebundenheit
Rivington Street reichte, oder da so herum, und dann
und Frivolität. Bei aller Genußfreude kennen wir nur treue
würde es schon weiter gehen. Nur 50 Dollars brauchte er.
Arbeit und Pflichterfüllung, wir besitzen Achtung vor uns
Er wollte sie leihen. Doch wer lieh ihm 50 Dollars? Worauf?
selbst, Respekt vor der Vergangenheit und Vertrauen in die
Er hätte den ersten besten feinen Herrn von den Vorüber¬
Zukunft. Wir lassen uns durch rohe Ausbrüche der Be¬
gehenden fragen können, und der hätte bloß in die Taschezu greifen
schränktheit — komme sie von antisemitischen Hetzern oder
beauchen, und es wäre ihm gar nichts gewesen. Aber wenn
nationalen Querköpfen — ebensowenig schrecken, wie von ver¬
er's gewagt hätte, wäre er sicher für verrückt gehalten worden.
zweiflungsvollen Klagen ehrlicher Phantasten und erkennen
So dachte Joseph und blies am Broadway seinen Dachshund
unserseits als den einzig möglichen Weg ins Freie das unab¬
auf, unermüdlich den ganzen Tag, und rief in seinem gren¬
lässige Ringen nach innerer und äußerer Freiheit.
lichen Englisch: „Take a Dachshund home mit you for the chil¬
dren, ten cents a piece!“ (Im Englischen gibt's kein Wort
für Dachshund.)
8


So war es wieder einmal Abend geworden, und Joseph
klappte seine lederne Handtasche zu, worin er die Dachshunde
geuieon
1
L
hatte, und trat den Heimweg an, zu Fuß, um die fünf Cents
für die Straßenbahn zu sparen. Als er die Straße ostwärts
dahin schritt, dem jüdischen Viertel zu, stieß sein Fuß plötzlich
Jolephs Scheckbuch.
an einen Gegenstand und schleuderte ihn eine kurze Strecke
Von Henry F. Urban (New York).
vorwärts. Joseph bückte sich und hob ihn auf. Es war ein
TEr hieß Joseph und wohnte im jüdischen Viertel von
funkelnagelneues Scheckbuch aus einer bekannten Bank. Joseph

— New York, in einem elenden, muffigen Kämmerchen,
lächelte und steckte das Scheckbuch in die Tasche. Es war völlig
das zur Wohnung eines mittellosen Glaubensgenossen im
wertlos für ihn. Aber es war ein ganz merkwürdiges Gefühl,
fünften Stockwerk eines schmutzigen Armeleutehauses gehörte.
dieses Ding da in seiner Tasche zu haben, wie wenn er ein
In Wahrheit schlief er hier nur. Tagsüber stand er am
reicher Mann wäre, so ein Dollarkönig, der seinen Blumen¬
Broadway, nahe dem Madison Square, und verkaufte für einen
händler trifft und sagt: „Ach, ich habe ja ganz vergessen, daß
Großhändler kleine Dachshunde. Es waren aber keine wirklichen
ich Ihnen die 250 Dollars für die Blumenrechnung vom letzten
Dachshunde, sondern ein Spielzeng, das man aufblies, bis es
Monat noch nicht bezahlt habe. Warten Sie, das können wir
die Gestalt eines unendlich langen, wurstähnlichen Dachshundes
gleich machen.“ Und er kritzelt rasch mit dem Füllfederhalter
hatte. Wenn man zu blasen aufhörte, so schrumpfte der Hund
im Scheckbuch herum und sagt: „Hier, mein Lieber. Geschäf
mit einem kläglichen Jammergeschrei wieder zusammen und
geht gut? Freut mich, freut mich, auf Wiedersehen.“ So hatte
war tot. So stund Joseph den lieben langen Tag und blies
es der Dollarkönig gemacht, den er im judischen Theater in
Dachshunde auf. Ab und zu verkaufte er einen. Die Meisten
der Grand Street gesehen hatte.
kauften wohl mehr aus Mitleid mit dem kleinen krummbeinigen
Zu Hause in seinem Kämmerchen nach dem kärglichen
Joseph, dessen Gesicht blaß und hohläugig und melancholisch
Abendessen (Weißbrot, Käse und zwei Bananen) nahm er wieder
war, und an dem der staubige, fleckige Anzug herumhing, wie
sein Scheckbuch vor. Er griff zum Federhalter, kratzte die ver¬
wenn er an einem Kleiderständer hing. Und auf dem Kopf
trocknete Tinte sein säuberlich mit dem Taschenmesser von der
saß ein viel zu großer beuliger schwarzer Hut, den nur die
Feder und schrieb zunächst auf die Rückseite des Deckels:
abstehenden umfangreichen Ohren davon abzuhalten schienen,
Scheckbuch von Joseph Zuckerkant. Dann überlegte er, was
daß er nicht über die Ohren rutschte. Auf zehn Schritte sah
er wohl machen würde, wenn er wirklich ein kleines Bank¬
man Joseph an, daß er nicht genug aß. Ja, es war ein
kontochen hätte, auf das er ziehen könnte. Vor allem stellte
Hundeleben mit den lumpigen paar Cents Verdienst. Und
er einen Scheck über 150 Dollars auf seine Mutter in Rußland
doch — herrlich war's im Vergleich mit dem Leben, das er
aus. Er hätte das so gar nicht machen können, aber das
daheim geführt hatte in Rußland, wo ihn Väterchens getreue
wußte er nicht. Dann füllte er einen Scheck über 30 Dollars
Diener gepufft hatten und wo sie den Vater und zwei Brüder
aus für einen neuen Anzug, dann einen Scheck über 30 Dollars
bei einem Pogrom erschossen hatten. Hier kümmerte sich
für Wohnungsmiete. Wenn er nämlich weiter drüben an der
niemand um ihn. Er konnte tun und lassen, was er wollte,
zweiten Avenue eine hübsche Wohnung gehabt hätte, mit heißem
so lange er sich nur anständig benahm. Und die Hauptsache:
und kaltem Wasser, einem hübschen Badezimmer und sonstigen
er konnte vorwärts kommen, konnte mal ein kleines Geschäft
Annehmlichkeiten. Dann füllte er einen Scheck aus über
anfangen, konnte vielleicht wohlhabend werden. Wer weiß?
50 Dollars für eine Sprechmaschine, aus der Caruso heraus¬
Hatten nicht viele gleich ihm angefangen, die heute in ihrem
singt und die Melba und andere Operngrößen, als ob man
eigenen Hause wohnten und im Automobil fuhren und einen
sie in der Oper hört. Das gab ein richtiges Konzert abends
großen Namen hatten in Israel und unter den Amerikanern?
oder am Sonntag, wenn seine Freunde ihn besuchten. So trieb
Hatte nicht der Loeb mit alten Kleidern angefangen und war
er's geraume Zeit. Mit verklärtem Gesicht saß er da und schrieb
jetzt der Inhaber von Iwan Loeb & Co., Fabrikanten von
und genoß seine eingebildete Wohlhabenheit. Doch danach fiel
feiner Herren=Unterwäsche, mit einer Fabrik in Paterson und
ihm ein, jemand könne dahinter kommen und ihm Unannehmlich¬
1500 Arbeitern darin? Und der Mendel Gordon, der eigentlich
keiten wegen der Schecks bereiten. Daher; riß er die Schecks
Mendel Gasgeruch hieß und aus seinem Orte stammte und
heraus und zerstörte sie. Er hatte das Gefühl, er müsse sich
jetzt Importeur von Pariser Kostümen für die Mrs. Vanderbilt
an diesem Abend etwas Gutes antun. So machte er sich fein
war und die Mrs. Ogden Goelet und die Mrs. Kernochan
und klapperte die fünf Stockwerke hinab auf die Straße. In
und die Mrs. Astor? Aber er wollte schon zufrieden sein,
Hirtensteins Zigarrenladen kaufte er sich eine Schachtel billiger
wenn er zunächst nur 50 Dollars hatte, um einen kleinen] Zigaretten. Danach ging er in eines der zahllosen kleinen