I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 100

der Diabolo verfolgt den Wanderer von Ort zu Ort.
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Frei
ins
23. Der We
Man sitzt nach ein paar Tagen auf der Terrasse eines
Dehneg as Teie
Hotels in Lovrana und liest ein gutes Buch. Jedenfalls das Buch, das
man jetzt gleich dem Diabolospiel in den modernsten Kreisen findet:
Schnitzlers „Weg ins Freie". Mitten in der Lektüre das bekannte
Augenschwirren, die bekannte Kugel, die bekannte Störung. Wieder eine
Diabolospule, die den Weg ins Freie genommen und einen vollständig
Unschuldigen beglückt hatte. Und wieder die Mütter, Tanten, Gro߬
mütter, Gouvernanten oder Kellnerinnen mit den süßesten Entschuldigungen.
Der Diabolo gibt sich aber nicht zufrieden; er folgt einem in die
sanftesten Gegenden des Semmering oder des Badner Helenentales, in
Tagesneuigkeiten.
das versteckteste Bauernhäuschen in Seebenstein oder Payerbach. Denn
selbstverständlich spielen auch schon die Bauernkinder, vom Stadt=Liesel
Der verbotene Diabolo.
oder Stadt=Steffel enthusiasmiert, das städtisch=ländliche Diabolospiel;
Eigentlich mußte es jeder Mensch voraussehen, daß diese Epidemie
allerdings wiegt die von einem oft ungeschlachten Bauernkinde auf den
ein Ende mit Schrecken nehmen werde. Jeder, der während der Ferien
Kopf des ahnungslosen Spaziergäingers geschleuderte Holzspule (am
durch Sommerfrischen, Berge und Städte kam, hatte wohl die Empfin¬
Naschmarkt bereits um 28 Heller erhältlich) mehr als der schlankere,
dung, daß die Reaktion unmöglich ausbleiben könne. Und sie ist auch
dafür aber feuergefährlichere Kreisel aus Zelluloid. Erwägt man noch,
wirklich nicht ausgeblieben. Aus Deutschland kommt eben eine für unsere
daß nach Ansicht vieler Kinderärzte das Diabolospiel die Nervosität
Kleinen hochbedeutsame Meldung. Mehrere reichsdeutsche Städte, dar¬
nicht wenig fördert, so wird man die überraschenden Beschlüsse der deutschen
unter die Stadt Halle, haben das Diabolospiel verboten. Eben den¬
Stadtvertretungen, die selbstverständlich nur das Spielen auf öffentlichen
selben Diabolo, der seinen Siegeszug durch die ganze Welt mit geradezu
Plätzen betreffen können, begreifen.
unerreichtem Erfolge angetreten, der aber vielen Großeltern, Eltern und
Der Inhaber eines der großen Wiener Spielwarengeschäfte, mit
Onkeln schwere Seufzer entlockt hatte. Denn der Diabolo, dieser kleine
dem wir über die Diabolo=Krankheit sprechen, schlägt ein großes Ge¬
Teufel, richtete in mancher Familie viel Unheil an.
schäftsbuch auf und sagt: „Bitte, wersen Sie nur einen Blick auf diese
Strenge genommen ist dieser Diabolo gar kein Teufel. Und es
Zusammenstellung und Sie werden nicht wenig staunen. Hier lesen Sie!
gehört wohl mit zu der magischen Kraft dieses Spieles, daß all die
Diabolo: Weihnachten 1905 verkauft: 2 Stück.
Kleinen, die in seinem Banne standen, darauf schworen, das Wort
Weihnachten 1906 verkauft: 4 Stück.
„Diabolo“ hänge auf irgend eine Weise mit dem Teufel zusammen.
Weihnachten 1907 verkauft: 4000 Stück.
Mit dem Teufel, der für Kinder in schulpflichtigem Alter schon seit
Sommer 1908 täglich 15 bis 20 Stück. Auf der Straße aber
langem seine Schrecken verloren hat. Und siehe da — das Spiel hat
(um 28 Heller) täglich 50 bis 100 Stück.
einen ganz anderen Ursprung. Nicht nur das Spiel, auch das Wort.
„Das Spiel tauchte vor drei Jahren in Ostende auf,“ erzählt unser
Ein gelehrter Herr, der mit Vorliebe in der Vergangenheit blättert, hat
Gewährsmann weiter. „Französische Familien finden in irgend einer
uns das interessante Geheimnis verraten. Der Erfinder des Diabolo
Rumpelkammer das alte Spiel, das ja schon vor vielen Jahren gespielt
lebte schon vor ungefähr hundert Jahren und hieß — Diabolin.
wurde, nehmen es, weil jetzt das Alte zieht, für ihre Kinder in das Bad
Ein schlichter französischer Drechsler in Besangon, der sich wahrscheinlich
mit, und von hier tänzelt es wieder durch die ganze Welt. Ergreift mit
schlecht und recht durch das Leben drechselte, wahrscheinlich von seinen
einer Verspätung von zwei Jahren, wie Sie aus unseren Aufzeichnungen
Zeitgenossen verkannt wurde und in den ärmsten Verhältnissen sein
sehen, auch Oesterreich. Eben erst hat Fürst Lubomirski unzählige Dia¬
Leben beschloß. Aber da doch bekanntlich auch in dem simpelsten
bolos bestellt. Der Diabolo hat also selbst in den höchsten Kreisen
Menschen so etwas wie Ehrgeiz schlummert, faßte er den löblichen Ent¬
Wurzel gefaßt. Allerdings betrachtet unsere Aristokratie den Diabolo als
#uß für seine Unsterblichkeit ein wenig tätig zu sein. Und
Sport, der auch von den Großen geübt wird, nicht aber als Spielerei.
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das von ihm erfundene Spiel Diabolo, nicht
Und wenn man einmal die Kinder zum Sport=Diabolo erziehen wird,
elin. Diabolo klang ihm jedenfalls viel vertrauen¬
dann werden Beschlüsse, wie sie jetzt einige deutsche Städte faßten, über¬
erweltens Allein auch diesem bescheiden=unbescheidenen Menschen
flüssig werden. Uebrigens macht der Diabolosturm, so paradox es auch
lachte die Se# n eines schönen Tages einen Gönner, der seine
klingen mag, den Spielwarengeschäften selbst Konkurrenz. Fragen Sie in
Erfindung den höch
ien Herrschaften vorführte. Und der Gönner war der
allen Geschäften nach, überall wird man Ihnen antworten: „Unsere
berühmte Taschenspieler und Zauberer Bartolommeo Bosco, der im
Sommerspielwaren bleiben liegen, es zieht nur der Diabolo.“ Der Erfolg
Gefolge des ersten Napoleon den unglücklichen russischen Feldzug mit¬
dieser beiden durch eine Seidenschnur verbundenen Stäbchen, dieses

und in des ersten Napoleon Mußestunden zur Erheiterung der
Spielkörpers ist einfach beispiellos.“ Schwimmende Menschen, sprechende
Gesel
t beitrug. Dieser Bosco war wirklich ein Teufelskerl! Er
Puppen, meterhohe Bären, Löwen und Tiger, unberührt auf ihrem
#aute sich vor dem Publikum höchsteigenhändig eine Brücke, bestieg
Platze stehend, machen ein bitterböses Gesicht und es scheint, als ob ihr
dieselbe, stolperte, zertrümmerte im Sturze eine wohlgewachsene Violine,
ganzer Groll den Kisten und Kistchen gelten würde, die den gebeimnis¬
und nach zwei, drei Sekunden erstand sie wieder (Geschwindigkeit ist
vollen, teuflischen Feind verbergen. Und auf der Erde kollert ein alter,
keine Hexerei!) in jungfräulicher Schöne vor dem entzückten Publikum.
alter, überwundener Kinderliebling: der Kinderball, der in unserer Jugend
Dieser Bosco fand nun Gefallen an Diabolins Erfindung und so wurde
den Diabolo ersetzte, gleichfalls 50, 60, 80 Meter hoch flog, gleichfalls
erwiesenermaßen schon im Jahre 1812 auf der Bühne Diabolo gespielt.
dem Partner zugeschleudert wurde, aber außerhalb der Don Karlos¬
Auch die Bevölkerung interessierte sich für das seltsame Ding, und man
Vorstellung keinen einzigen Spaziergänger belästigte.
darf wohl annehmen, daß schon unsere Großelten Diabolo spielten,
Allein der Diabolo, der Böses zu ahnen scheint, hat wieder reue¬
Eines schönen Tages verschwindet aber das Spiel, taucht vor ein paar
voll zurückgefunden, woher er gekommen: zur Bühne. Auf der mitter¬
Jahren wieder auf, überschwemmt sogar die kleinsten Häuschen und
nächtlichen Variétébühne in „Venedig“ sind jetzt zwei französische
wird endlich — verboten. „Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit",
Diabolospieler zu sehen, die das Spiel zu der grandiosesten Kunstfertig¬
wie es kurz und bündig in der Begründung heißt.
keit ausbilden: die Brüder Philipparts. Wenn man da sieht, wie
Die Gründe der öffentlichen Sicherheit — wir brauchen über die¬
Philippart I dem zweiten Philippart über ein Netz die ansonsten
selben nicht nachzudenken. Haben doch gewiß auch viele unserer Leser schon
gefürchtete Spule zuwirft, der sie dann auffängt, dann wieder zurück¬
unter diesen Gründen gelitten. Man liegt z. B. ruhig und weltvergessen
schleudert, wieder auffängt — in infinitum, da begreift man erst, daß
im Sande des Lidobades. Herrlicher und prächtiger denn je lacht der
Diabolo als Sport noch immer eine große Zukunft hat. In ihrer Garde¬
italienische Himmel, idyllischer denn je ruht das große, schöne, gewaltige
robe erläuterten uns dann die Diabolo=Champions den neuen Sport.
Meer. Die Sonnenstrahlen vergolden gütig die ganze Capanna¬
„Wir sind über die Deutschen und Oesterreicher einfach entsetzt,“ sagt
Umgebung, die schlafende Gegend, da plötzlich schwirrt es einem vor
der Jüngere. „In Frankreich, Belgien, England fällt es keinem Vater
den Augen, eine Kugel kommt geflogen, kein Zweifel, wem sie gilt,
und keiner Mutter ein, Diabolo als Spielzeug aufzufassen. Der Diabolo
denn man fühlt am Kopfe oder am Oberarm einen leisen
hat dor das Lawn=Tennis verdrängt und behauptet sich unbestritten
Schmerz. Die Kugel war nichts anderes als eine Diabolospule, die
als Sport. Dort wird auch keine Behörde den Diabolo verbieten können.
voll lächelnder Rücksichtslosigkeit auf den Kopf eines ganz Unbeteiligten
weil er eben in abgegrenzten Räumen von Kundigen gespielt wird
sauste. Und nach ein paar Minuten schon naht ein weinendes Mädchen,
und keinen Menschen belästigt. Es handelt sich eben um eine ernste
das seinen Diabolo sucht, und in seinem Gefolge eine Mutter, Gro߬
Sache.“ „Ihr seid aber viel zu ernst während der Vorstellungen,“ ruft
mutter, Gouvernante, Tante oder Badewärterin, die mit der liebens¬
der Wiener Komiker, der eben die Bühne verläßt, den Philipparts
würdigsten Miene der Welt flüstert: „Es hat Ihnen doch hoffentlich
wohlwollend zu. „Viel zu ernst. Nach meiner Ansicht solltet Ihr auch
nicht wehe getan!" Als ob es für einen, der kein deutscher Admiral ist,
ein wenig — diabolisch lächeln.“ Dann nimmt er Stock und Hut und zieht
nicht arg genug wäre, aus wunderlieben Marineträumen geweckt zu
sich schleunigst in gesicherte Gegenden zurück. ...
werden. Und wenn man die verirrten Kreiselbesitzer auch nicht so
Wir aber staunen über den langen weiten Weg, den der Diabolo
strenge bestrafen will wie weiland König Philipp den verirrten Ball zurückgelegt hat — vom ersten Napoleon zum zweiten Philippart..
Posas man kann die Entrüstung nicht zurückstellen. Denn
Li.