23.
Neg
Fr
in
box 3/2
Der. Seenenenene.
491
Dr. A. Coralnik: Tagebuch-Blätter.
492
Wille des Judentums noch im Verborgenen lebt,
Hat er dieses sein Volk wirklich geliebt? Man
dass er, wenn auch gebrochen, sich wieder auf¬
hat mit überschwenglichen Vergleichen wahrlich nicht
raffen kann. Er hat keine neuen Wege und keine
gekargt. Man hat Herzl mit Bismarck, mit Lassalle ver¬
neuen Möglichkeiten gezeigt, unsere Volksseele nicht
glichen. Wenn ich diese vergleichende, unrichtige Methode
um eine Nüance bereichert. Aber wohl um einen
aufnehmen sollte, so würde ich ihn schon eher mit
neuen Typus des grossen Juden.
Lassalle vergleichen. Denn sie haben beide einen gemein¬
Einer nach dem andern lösten sich die heroischen
samen Zug, sie standen den Meuschen ihrer politischen
Typen im Judentum ab. Zu allererst war es der
Partei fremd und kühl gegenüber, sie waren nur
Priester, der Heilige, innerhalb einer Kaste, nicht als
Künstler-Politiker. Für sie war ihre Politik nicht
Persönlichkeit über alle anderen erhaben, sondern als
eine grosse Leidenschaft der Rasse, ein Ausbruch
Mitglied einer bestimmten heiligen Gemeinschaft,
eines Volkstemperamentes, der Zorn eines Mannes,
Wahrer der uralten Tradition. Dann kam der Typus des
der mit seinem Volke ein untrennbares Leben führt.
Propheten. Der lebendige Protest gegen das Priestertum.
Sie waren Künstler, denn sie formten ihren Stoff, der
Nur Persönlichkeit, nur Eigenwert. Es kam mit dem
ihnen wesensfremd war, wie ein Bildhauer seine spröde
Propheten ein neues Element zur Entwicklung — des
Materie formt — bloss als Mittel zur Ausführung ihrer
isolierten, auf sich gestellten Gottesmenschen. Im
Idee. Lassalle stand zu den Arbeitern innerlich fremd,
Trubel der Zeiten ging der Prophet zu Grunde und
besonders den deutschen. Er war zu sehr Aesthet und
an seine Stelle trat der Weise, der Gelehrte, der
zu sehr Iehmensch, um den einfachen Arbeitsmann
„Gaon“ in allen Formen und Gestalten. Was immer
wirklich zu lieben. Aber der Arbeiter war für ihn
einer war, wenn er je im Judentum gelten wollte, so
ein Ziegelstein im Gebäude der Zukunft.
musste er ein Gelehrter sein. Der Gelehrte wurde
Herzl stand dem Juden als solchem, dem leiden¬
der Lehrer des Volkes, der Führer der Generation,
schaftlich vibrierenden, dem Sohne des Judentums,
der „Exilarch“. Und als die Thora in Vergessenheit
kühl und fremd gegenüber, Ich glaube, er hat nie die
zu geraten begann, da verlor auch der Gelehrte
innere Sehnsucht des Juden erlebt. Seine Politik war
seinen Vollwert — und trat den ersten Platz dem
die des Wollenden und des Künstlers. Und das ist
Reichen, dem Eintlussreichen, dem Starken, dem „Nagid“
der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit, dass er den
ab. Mit Herzl kam ein neuer Typus in das jüdische
Rhythmus des jüdischen Lebens nicht hören oder nicht
Leben — der Staatsmann. War ist ein Staatmann? Einer,
miterleben konnte.
der die Interessen, der Gemeinschaft zu seinem Lebens¬
Im Wesen der Kunst liegt es, dass die „idee“
interesse macht, der nur dank seinem Willen, seiner
grösser, tiefer, umfassender ist, als die Form. Der
eigenen Kraft, seiner klaren Einsicht in die Verhält¬
Formgeber, der Ausführende kommt nach dem Dichter.
nisse und seinem Plane für die Zukunft Macht und
Auch in der Kunst der Politik.
Autorität sich erringt, der die übrigen Menschen zwingt,
Entweder also ist der Formgeber Herzl zu früh
ihn anzuerkennen, Herzl war in diesem Sinne der
gekommen — oder war er der Dichtende und Aus¬
wirkliche, der einzige jüdische Staatsmann, denn er war
führende zugleich.
der Einzige, der einen so klar konzipierten P’lan einer
Manche glauben — er sei es gewesen. Viele aber
jüdischen Zukunft hatte. Er war der Einzige, der es
glauben in ihrem Herzen — derjenige, der den grossen
verstanden hat, #durch seine Persönlichkeit Auto¬
neuen Enthusiasmus in das Judentum bringen wird -
rität im Volke z erlangen.
werde erst kommen.
DER WEG INS FREIE.
Nachdruck verboten.
Von Dr. Hugo
Bergmann.
Gottfried Keller hat in einem jener Gedichte,
Geschlechtes von Juden, deren vergeblicher Kampf
die in der Tiefe ihrer starken Wurzelkraft und in
um eine eigene Persönlichkeit von ergreifender
der Höhe ihrer freien Menschlichkeit gerade dem
Schönheit ist. Und nun ihre Niederlage vollendet
modernen Juden ein Born der Erfrischung sind, das
ist und eine neue Generation denselben Kampf auf
Wort ausgesprochen:
anderem Felde begonnen hat, steigt angstvoll die
Frage auf: Werden sie ihn finden, den Weg ins
Willst Du, o Herz! ein gutes Ziel erreichen,
Freie, den Weg zu sich selbst? —
Musst Du in eig’ner Angel schwebend ruhn.
Schnitzler hat dem leidenden modernen Juden
Die Sehnsucht nach dieser Ruhe zieht durch
ein Denkmal gesetzt. Sein Heinrich Beermann
Arthur Schnitzlers neues Buch. „Der Weg
wird im Andenken der Neuen leben, man wird ihn
ins Freie“*) ist der erschütternde Totensang eines
nennen, wenn man von allen denen sprechen wird,
die der Zwiespalt zerrissen hat: von Maimon, von
*) Arthur Schnitzler „Der Weg ins Freie“. Roman.
Berlin, S. Fischer 1908.
Heine, von Jakobowski. In der Glut ihrer Leiden
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Dr. A. Coralnik: Tagebuch-Blätter.
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Wille des Judentums noch im Verborgenen lebt,
Hat er dieses sein Volk wirklich geliebt? Man
dass er, wenn auch gebrochen, sich wieder auf¬
hat mit überschwenglichen Vergleichen wahrlich nicht
raffen kann. Er hat keine neuen Wege und keine
gekargt. Man hat Herzl mit Bismarck, mit Lassalle ver¬
neuen Möglichkeiten gezeigt, unsere Volksseele nicht
glichen. Wenn ich diese vergleichende, unrichtige Methode
um eine Nüance bereichert. Aber wohl um einen
aufnehmen sollte, so würde ich ihn schon eher mit
neuen Typus des grossen Juden.
Lassalle vergleichen. Denn sie haben beide einen gemein¬
Einer nach dem andern lösten sich die heroischen
samen Zug, sie standen den Meuschen ihrer politischen
Typen im Judentum ab. Zu allererst war es der
Partei fremd und kühl gegenüber, sie waren nur
Priester, der Heilige, innerhalb einer Kaste, nicht als
Künstler-Politiker. Für sie war ihre Politik nicht
Persönlichkeit über alle anderen erhaben, sondern als
eine grosse Leidenschaft der Rasse, ein Ausbruch
Mitglied einer bestimmten heiligen Gemeinschaft,
eines Volkstemperamentes, der Zorn eines Mannes,
Wahrer der uralten Tradition. Dann kam der Typus des
der mit seinem Volke ein untrennbares Leben führt.
Propheten. Der lebendige Protest gegen das Priestertum.
Sie waren Künstler, denn sie formten ihren Stoff, der
Nur Persönlichkeit, nur Eigenwert. Es kam mit dem
ihnen wesensfremd war, wie ein Bildhauer seine spröde
Propheten ein neues Element zur Entwicklung — des
Materie formt — bloss als Mittel zur Ausführung ihrer
isolierten, auf sich gestellten Gottesmenschen. Im
Idee. Lassalle stand zu den Arbeitern innerlich fremd,
Trubel der Zeiten ging der Prophet zu Grunde und
besonders den deutschen. Er war zu sehr Aesthet und
an seine Stelle trat der Weise, der Gelehrte, der
zu sehr Iehmensch, um den einfachen Arbeitsmann
„Gaon“ in allen Formen und Gestalten. Was immer
wirklich zu lieben. Aber der Arbeiter war für ihn
einer war, wenn er je im Judentum gelten wollte, so
ein Ziegelstein im Gebäude der Zukunft.
musste er ein Gelehrter sein. Der Gelehrte wurde
Herzl stand dem Juden als solchem, dem leiden¬
der Lehrer des Volkes, der Führer der Generation,
schaftlich vibrierenden, dem Sohne des Judentums,
der „Exilarch“. Und als die Thora in Vergessenheit
kühl und fremd gegenüber, Ich glaube, er hat nie die
zu geraten begann, da verlor auch der Gelehrte
innere Sehnsucht des Juden erlebt. Seine Politik war
seinen Vollwert — und trat den ersten Platz dem
die des Wollenden und des Künstlers. Und das ist
Reichen, dem Eintlussreichen, dem Starken, dem „Nagid“
der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit, dass er den
ab. Mit Herzl kam ein neuer Typus in das jüdische
Rhythmus des jüdischen Lebens nicht hören oder nicht
Leben — der Staatsmann. War ist ein Staatmann? Einer,
miterleben konnte.
der die Interessen, der Gemeinschaft zu seinem Lebens¬
Im Wesen der Kunst liegt es, dass die „idee“
interesse macht, der nur dank seinem Willen, seiner
grösser, tiefer, umfassender ist, als die Form. Der
eigenen Kraft, seiner klaren Einsicht in die Verhält¬
Formgeber, der Ausführende kommt nach dem Dichter.
nisse und seinem Plane für die Zukunft Macht und
Auch in der Kunst der Politik.
Autorität sich erringt, der die übrigen Menschen zwingt,
Entweder also ist der Formgeber Herzl zu früh
ihn anzuerkennen, Herzl war in diesem Sinne der
gekommen — oder war er der Dichtende und Aus¬
wirkliche, der einzige jüdische Staatsmann, denn er war
führende zugleich.
der Einzige, der einen so klar konzipierten P’lan einer
Manche glauben — er sei es gewesen. Viele aber
jüdischen Zukunft hatte. Er war der Einzige, der es
glauben in ihrem Herzen — derjenige, der den grossen
verstanden hat, #durch seine Persönlichkeit Auto¬
neuen Enthusiasmus in das Judentum bringen wird -
rität im Volke z erlangen.
werde erst kommen.
DER WEG INS FREIE.
Nachdruck verboten.
Von Dr. Hugo
Bergmann.
Gottfried Keller hat in einem jener Gedichte,
Geschlechtes von Juden, deren vergeblicher Kampf
die in der Tiefe ihrer starken Wurzelkraft und in
um eine eigene Persönlichkeit von ergreifender
der Höhe ihrer freien Menschlichkeit gerade dem
Schönheit ist. Und nun ihre Niederlage vollendet
modernen Juden ein Born der Erfrischung sind, das
ist und eine neue Generation denselben Kampf auf
Wort ausgesprochen:
anderem Felde begonnen hat, steigt angstvoll die
Frage auf: Werden sie ihn finden, den Weg ins
Willst Du, o Herz! ein gutes Ziel erreichen,
Freie, den Weg zu sich selbst? —
Musst Du in eig’ner Angel schwebend ruhn.
Schnitzler hat dem leidenden modernen Juden
Die Sehnsucht nach dieser Ruhe zieht durch
ein Denkmal gesetzt. Sein Heinrich Beermann
Arthur Schnitzlers neues Buch. „Der Weg
wird im Andenken der Neuen leben, man wird ihn
ins Freie“*) ist der erschütternde Totensang eines
nennen, wenn man von allen denen sprechen wird,
die der Zwiespalt zerrissen hat: von Maimon, von
*) Arthur Schnitzler „Der Weg ins Freie“. Roman.
Berlin, S. Fischer 1908.
Heine, von Jakobowski. In der Glut ihrer Leiden