I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 117

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Dr. Unge Bergmann: Der Weg ins Freie.
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ist er geschaffen worden, ihre Seele lebt in der
loren war, mit um so klarerem Blick erkannte sie
seinen.
die Fülle der Welt.“
— So sind sie, deren
Er ist kein edler Charakter dieser Wiener
Untergang diese ergreifende Elegie besingt. Sie
Schriftsteller, der sein Leben lang um den Platz
sind klug, aber sie sind nicht gütig. Sie sind zu
kämpft, auf den ihn Geburt und Schicksal gestellt
stolz, um „hinüberzuhüpfen“, zu elend, um sich
haben und den ihm die Vielzuvielen der kompakten
selbst zu achten. Sie durchschauen alles bis auf
Majorität streitig machen. Er hat es verlernt,
den Grund, und sind abergläubisch wie ein Weib
seinem Li n auch nur eine gerade Linie zu
in der Furcht, bemitleidet oder gehasst zu werden.
geben. Längst ist die hohe unbeugsame Kraft
Die Harmlosigkeit ist es, die ihnen abgeht. „Im
dahin, die den Grossvätern noch aus ihrem
ganzen fand er — der arische Freiherr — den
Glauben floss. Was ist ihm Weltanschauung?
Ton der jungen Leute unter einander bald zu
Eine falsche Induktion, bestenfalls eine Dichtung,
intim, bald zu fremd, bald zu witzelnd, bald zu
schlimmstenfalls Spielerei und hohles Gerede! Ihm
pathetisch. Keiner schien sich dem andern, kaum
ist die Welt kein Ganzes, eins wird sie nur dem,
einer sich selbst mit Unbefangenheit zu geben.“
der sie zu schaffen oder nachzuschaffen vermag.
Und in die Stuben dieser Menschen, deren
Aber Gesetzen sich zu fügen, die er nicht ge¬
Leben die Ironie ist, kommt der Ruf von den
geben, dazu ist er zu trotzig oder besser zu feig.
werdenden ganzen jüdischen Menschen. Ihre Ant¬
Und auch den Mut einer politischen Anschauung,
wort ist die müde Resignation. Dorinin können
die noch sein Vater, der liberale Abgeordnete, be¬
sie nicht mehr. Aber hier! Hier nochmals und
sessen, hat er nicht mehr. Das Geschlecht derer,
wieder und immer von Neuem den Kampf be¬
die eine Fahne hochzuhalten wussten, starb mit
ginnen, den Kampf um den Boden. In den Ge¬
dem österreichischen Liberalismus. Für Heinrich
sprächen, die Heinrich Beermann mit Leo Golowski,
Beermann ist das Vaterland eine Fiktion. Kein
dem jungen Zionisten, führt, hat Schnitzler
Gott, keine Heimat, kein Volk. Und das Gefühl,
vielleicht das tiefste gesagt, was ein jüdischer
einer von der Kette zu sein, die von Urenkeln zu
Politiker oder Dichter des Westens je über den
Vätern und Söhnen zieht, ihm ist es nichts. Denn
Kampf zwischen Assimilation und Zionismus ge¬
auch nach rückwärts schauend ahnt der Geist
sagt hat. Die jüdische Gesellschaft vom Quai
ewige Gesetze und waltende Mächte. Er aber
oder Berlin W. hat ja mancher schon vor ihm ge¬
will ein Erster sein, ein Einziger, ein Einsamer.
zeichnet, wenn auch vielleicht nicht mit so feiner
Aber die Menschen sind nicht geschaffen, einsam
Psychologie. Wir haben sie alle als gute Be¬
zu sein, und die Ferdinand Nürnberger sind selten
kannte begrüsst: den jungen Ehrenberg, dem der
auf der Welt. So bleibt Beermann doch immer
vom Vater erworbene Reichtum Gelegenheit gibt,
ein Kind der unendlichen Sehnsucht. Wonach?
sich feudal zu geberden und zu tun, als gehöre er
Wenn er es wüsste! Ihm fehlt nicht nur die Freude
nicht „dazu“, und der sich beeilt, vor dem Kirchen¬
des Besitzenden; das grausame Schicksal, das ihn
portal den Hut zu ziehen, da ein paar Aristokraten
zwischen zwei Welten gestellt, hat ihm auch nicht
vorbeigehen. Wir kennen auch seine Mutter, die
das Glück gegönnt, sein Ich in ein Streben zu¬
immer in Angst schwebt, von ihrem Mann
sammennehmen zu dürfen. „Diese jüdisch über¬
blamiert zu werden. Wir haben auch über ihn
klugen, schonungslos menschenkennerischen Leute“
schon oft gelacht, den gutherzigen alten Ehren¬
haben über der Kunst, alles bohrend zu analysieren
berg, dem „vor die Jours im Hause Ehrenberg
und bis ins kleinste zu verstehen, verlernt, zu
mies is.“ Nur dass ihm selten ein Dichter so
sein. Sie sind zu klug, um lieben oder auch nur
viele sympathische Züge verliehen hat wie Schnitzler.
hassen zu können. Sie haben keine Leidenschaft,
Gezeichnet also hat diese Leute schon mancher.
kein Pathos erhebt ihre Seelen. Schnitzler er¬
Aber den Kampf um das erwachende Judentum
zählt uns die ergreifende Geschichte einer jüdischen
mitten unter sie zu tragen und an ihm ihre Seelen
Schauspielerin, die nicht nur auf den Brettern,
zu spiegeln, das tat niemand Schnitzler zuvor.
die auch im Leben „unter gemaltem Himmel und
Nicht als ob er Partei ergreifen würde für oder
zwischen papiernen Wänden“ hin- und hergetaumelt
wider. Aber gerade weil er es nicht tut, konnte
hatte. Und erst als sie dem Grabe entgegenging,
er die Krankheitsgeschichte der westeuropäischen
„erwachte in ihr eine ungeheure Sehnsucht nach
Juden in so erschütternder Wahrheit schreiben.
dem wirklichen Leben, das sie versäumt hatte; je
.Georg, auf seinen Mantel gestreckt, hörte ihnen
sicherer sie wusste, dass sie ihr für immer ver- zu. Bald neigte sein Sinn sich Leo zu, in dessen