I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 124

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DER WEG INS FREIE
„Roman ohne Roman“ bezeichnet. Schnitzlers Geschichte ist das
Uber die deutsche Presse, die den „Fortschritt“ repräsentier“,
nicht; aber ich muß sagen, daß ich fest überzeugt bin, daß er
zuweilen auch kompromittiert, ist wie ein Verhängnis ein ihr sehr
zuerst vorhatte, eine solche zu schreiben. Das Wesentliche an
unbequemes Buch gekommen. Sie wird dafür bezahlt, daß sie
dem Buch, worin der Wille und die Kraft des Dichters sich vor
tagtäglich das Problem der Judenfrage mit immer tieferen Schleiern
allem manifestierte, ist seine Judenfabe'; der „Roman“ hat im
verhängt und, wenn sie schon von ihm sprechen muß, es als ver¬
Grunde nichts mit ihr zu tun. Er ist hinzugekommen aus kunst¬
storben behandelt, — und nun kommt plötzlich eine unerwartete,
technischen Gründen, damit kein Parteibuch, sondern eine Dich¬
verwünschie Hand, die mit einem Ruck die Verhüllung herabreißt
tung entstünde. Vielleicht aber auch, weil der Mut des Dichters
und zeigt, daß der Tote wandelt! Das Allerärgste an der Sache
(und es gehört wirklich ein Heldenmut für einen Mann wie Schnitzler
aber ist, daß diese Hand einem ihrer Eigensten, ihrer Lieblinge,
dazu, so frei über jüdische Dinge zu schreiben und so fest das
Ihrer Renommierbeispiele von ehedem gehört. Wie schön war es
jüdische Panier zu ergreifen) mitten auf dem Wege wankend wurde
nicht, an der und jener Koryphäe der literarischen Moderne be¬
Ich glaube, hier ist ein Kompromiß geworden: Schnitzler gab sich
wundern zu lassen, wie sehr der Jude von heute im Deutschtum
und der Wahrheit, was ihm am Herzen lag, aber er gab auch der¬
„aufgegangen“, wie alle Fazern seines Wesens im Boden dieser
hungrigen — Literatenwelt ein Stück des alten Schnitzier dazu.
Kultur wurzeiten, Kräfte a 3 ihm sogen und Wunderblüten an sie
Aber Kompromisse rächen sich immer; und so ist hier über der
zurückgaben. Deß unglä bige germanische Rassefanatiker sich
krassen Doppelheit von Judenfrage und Liebe, die nur so inein¬
zuweilen energis. u für d’ese Blüten mit ihren „fremden“ Düften
ander geheftet sind, die Einheitlicheit, die das Kunstwerk macht
bedankten und die deuts che Kultur in Gefahr sahen, von ihnen
zerbrochen worden.
„vergiftet“ zu werden, gelierte die vom unentwegten Fortschritt
nicht: die Bartelsianer nahm man nicht ernst. Wie aber? Nun
Um die Liebesgeschichte in dem Buche mag sich kümmern,
kommt er, eines der Schoßkinder des Assimilationsprotzentums
wer will; sie ist eine wie alle dieses Dichters, weich, ohne tragische
selber, der Berühmtesten einer, der bislang hinter seinem deutschen
Kanten, ohne lauten Überschwang, schlicht, tief, verträumt, schick¬
Schaffen den geborenen Juden so schön hatte vergessen machen,
salsstreng, aus nichts als den Seelen allein herausgezwungen, ohne
wahrhaftig er, Arthur Schnitzler, selber, und „gibt den Antisemiten
die groben Vermittlerhände äußerer Umstände. Hier ist es ein
rech.?“ Ja, dann wanken doch aber alle Stützen? Auf wen ist
junger Freiherr, Künstler zugleich, der ein Mädchen aus dem
denn da noch Verlaß! Das ist ja Verrat im eigenen Lager! Wer
arbeitenden Mittelstande an sich zicht und verläßt. Sie hätte für
bürgt denn nun noch dafür, daß nicht aus ihrer eigenen Mitte
uns hier nur dann Bedeutung wenn wir imstande wären, eiwa das
heraus bald der und jener aufsteht und die ganze freisinnige Presse —
typisch Arische an diesen Charakteren als das eigentlich Wirksame
bloßstellt? Ein Gefühl des Unbehagens überfiel diese Presse, ähn¬
an just dieser Art eines Verhältnisses zwischen Mann und Weib
lich dem, das die Engländer packte, als das Riesenluftschiff des
festzustellen. So weit sind wir nicht, und es wäre töricht, gewisse
deutschen Grafen vom Bodensee die Herrschaft in den Höhen er¬
Einfälle und haschende Vermutungen als Theorien oder gar als
oberte. Auch hier grossierte die — Invasionsfurcht.
Wahrheiten auszugeben.
Was uns fesselt, ist die Judensache, um derentwillen „der Weg
Wien st nun einmal eine Unglücksstadt für den judenchrist¬
ins Freie; geschrieben ist und seinen bedeutungsvollen Namen ge¬
lichen Freisinn. Nach Herzl—Schnitzler. Es gibt nur ein Mittel
wann. Es gibt keinen intelligenten Juden, so sagt uns Schnitzler,
dagegen, wie damals: totschweigen; oder wenn schon darüber
der ihn nicht suchte, diesen Weg ins Freie. Denn alle, alle fühlen
gesprochen werden muß, dann kurz abtun. Und so durften wir
sich in der Enge, in der Fremde, im Gefängnis, in Feindesland,
denn die Komödie erleben, daß dieselbe Presse, die jede erotische
alle zwischen unsichtbaren Mauern. Schnitzler zeigt sie uns alle;
oder salongesellschaftliche Spielerei des Wiener Einakter-Drama¬
er führt uns durch die ganze Oberschicht der Wiener Judenheit
#tikers als kulturelle Neutat gefeiert hatte, den ersten großen Roman
und zieht aus allen ihre tiefe Unruhe, ihre Unsicherheit, ihre Seelen¬
dieses Schriftstellers, zugleich ein Zeitdokument allerersten Ranges,
kämpfe, ihr Flügelschlagen, all ihren Drang ins Freie ans Tageslicht.
kurzerhand unter den Tisch fallen ließ. Berühmtheit schützt vor
Er tut damit genzu das gleiche, was Herzl tat: er beweist die
Schneider nicht.
Existenz des „neuen Ghetto“, das noch genug wollend Blinde ver¬
Diesmal werden wohl wir Zionisten die einzigen sein, die
bissen leugnen. Man empfindet unter diesen Blinden, daß nach
diesem Werke eines jüdischen Dichters deutscher Zunge Gerechtigkeit
einer solchen Darstellung voll leuchtender Kunst und Wahrheit
widerfahren lassen. Wir werden den Vorwurf der Voreingenommen¬
das Leugnen ein Ende nehmen muß: daher der Widerstand.
heit für das Buch, das man beinahe ein zionistisches nennen
Unter allen diesen Juden wird dem arischen jungen Kavalier
könnte, von vornherein energisch zurückweisen. Wir haben uns
ein besonderes Erlebnis: kein einziger von ihnen lebt seines
immer gehütet, eine Parteisache mit einer Kunstsache zu verquicken;
Judentums naiv unbewußt, fest wie er in seiner Art beruhend,
und Bücher, wie das von Lothar Brieger-Wasservogel, das tadellos
dahin; sie empfinden sich zu viel, immerfort, schmershaft; entweder,
programmatisch zionistisch ist, haben wir darum doch mit wohl¬
so bemerkt er, schämen sie sich, daß sie Juden sind, oder sie
verdienter Nichtachtung behandelt. Oder gar Machwerke wie das
kehren’s ostentativ heraus. Und gerade damit irritieren sie selbst
jüngste von Münz werden wir allezeit reinlich von unseren Rock¬
den vorurteilslosesten Christen, der „es ihnen ja gar nicht übelnimmt,
schößen schütteln. Hier muß aber der Wahrheit gemäß die Fest¬
daß sie existieren“. Sie sind unbegreiflich empfindlich, und dadurch
stellung getroffen werden, daß Schnitzlers „Weg ins Freie“ trotzdem
wird's ihre Gegenwart. So entsteht eine innere lsolierung, die die
es eine gutjüdische Tat ist, doch literarisch gleichwohl ein Er¬
äußere hervorruft und von ihr immer wieder erzeugt wird, — ein
eignis bleibt.
unendließer Fehlkreis. Jene alten Juden, die noch an den unaufhalt¬
Unser Scholem Aleichem hat eine Geschichte, die er als
samen Fortschritt glauben, scheinen ihm noch die gesundesten; in
den jungen aber, da gärt und glüht, reißt und zerfleischt die
*) Roman von Arthur Schnitzler. S. Fischers Verlag, Berlin 1008.