I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 125

23.
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der junge idealistische Politiker; da ist sie auch, die ganze
Frage nach ihrem Selbstwert, nach der Zukunft ihres Stammes,
die Sehnsucht nach dem endlichen Weg ins Freie.
Kaste der jüdischen Künsiler von der Feder und der Musik, von
Für uns sind natürlich diese Jungen das Int ressanteste an dem.
der Sphäre des Kaffeehauses aufwärts bis zu der Stufen des
ganzen Werk. Schnitzler hat an ihnen eine Brobachtungsgabe und
Genialen.nd endlich die Frauen, echt Schnitzlersche, echt
jüdische Frauen: hausmütterliche, geborene Pflegerinnen, Salon¬
eine Tiefe der Charakteristik bewiesen, die ohnegleichen sind. Der
fürstinnen mit mehr oder weniger Talmi in der Würde, sinnliche
junge Ehrenberg, der Prototyp des widerlichen Assimilanten, der
Flackerlichter, auch gespielt lüsterne „anständigte Frauen“, und
sich den „andern“ anbiedert um jeder Preis, ihnen nachäfft und
die jungen Unfertigen, sich selbst und den Männern ungelöste
sein Inneres prostituiert, der, um sich bei vorbeigehenden etlichen
Sphinxe, alle urhüllt von etwas undefinierbar Weichwelligem.
Freunden lieb Kind zu machen, vor der Kirche den Hut zieht und
absonderlich Offenem, zum Geben (bis zur Selbstaufopferung und
von dem entrüsteten gutjüdischen Vater dafür vor eben diesen
der Prostituierung) Bereitem, das ihren Charme und ihre
Freunden geohrfeigt wird. Dr. Berthold Stauber, der begabte Arzt
Gefahr bedeutet. Schnitzler beweist wieder einmal, daß es
und Politiker, der sein Judentum so stark empfindet, daß er, weil
nicht einen, den einen Judentypus gibt, sondern deren ein ganzes
darin beleidigt, sein Parlamentsmandat niederlegt und reinliche
Spektrum, natürlich mit durchgehenden Gleichheitslinien.
Scheidung zwischen sich und den Nichljuden macht; Heinrich
Es ist kein Zweifel darüber möglich, daß Schnitzlers Symyathie
Beermann, der genial veranlagte, übersensible, dekadentische Poet,
den zionistischen „Weg ins Freie“ begleitet. Die beiden wärmst
der tief innerlich zerrissen ist, weil er das Land, in dem er leht,
gezeichneten Gestalten des Buches, der alte Ehrenberg und Leo
übermächtig liebt und als Jude doch ein Fremder, Geächteter,
Golowsky, sind dafür Zeugen. Von dem letzteren geht eine Kraft
Verkannter a d Verketzerter darin ist, weil er mächtig das Große
und Ruhe aus, die keiner der anderen jüdischen Typen atmet und
und Starke am Judentum erkennt und doch an seine Renaissance
die nur in dem schönen Gleichgewicht des christlichen Adligen
nicht glauben kann; und endlich Therese Golowsky, die die Juden¬
ihren, immer doch noch weit tiefer liegenden, Gegenpol findet.
frage mit dem erfüllten Sozialismus gelöst sicht, und ihr prächtiger
Und doch bedeutet das Buch keinen Panegyrikus, keine Begründung
heldenhafter Bruder Leo, der Typ der Gesundung unter ihnen allen,
der Predigt des Zionismus. In den wundervollen Diskussionen über.
der sein Volk einer neuen Zukunft durch den Zionismus entgegen¬
die Judenfrage, die sich zwischen Beermanz und Golowsky ab¬
geführt weiß. Uns ist, als hätten wir mit ihnen allen gestern und
spielen, hat der Dichter dem Zweifler an der Zukunft und der
heute erst gesprochen, sie sind uns vertraut, wie wir uns selber
eihichen Berechtigung des zionistischen Gedankens genau so starke
sind. Die größte Kunst steckt zweifellos in dem Heinrich Beermann:
subjektive Wahrheit gegeben als dem Gläubigen. Er hat, über dem
die dekadente Uberspannung der jüdischen Intelligenz zu sich
Ganzen schwebend, eben jenen ganzen furchtbaren Wirbel wieder¬
überschlagender Spitzfindigkeit und Überschwang. Die typische
gegeben, der die Wirklichkeit, eben unsere Wirklichkeit ist, den
Erkrankung an Judenschmerz, zugleich die Selbstauflösung des
ganzen Wirbel von Kämpfen in den Seelen drinnen und gegenein¬
assimilatorischen Skeptizismus können nicht tiefer geschaut und
ander um die wahre mögliche Erlösung des Judenschicksals, über
vollendeter dargestellt werden. Dieser Typus wird historisch bleiben.
Der Rahmen für die Judengeschichte ist ziemlich gewaltsam
dessen Abnormität und Unmöglichkeit der Fortexistenz unter den
gefügt. Es dürfte im wahren Wien kaum vorkommen, daß ein
gegenwärtigen Bedingungen keine Täuschung mehr Bestand hat,
arischer Freiherr, wie der „Held“ des Reiches, ausschließlich in
den Wirbel, in den verständnislos oder kalt oder schaudernd, wie
jüdischen Kreisen Verkehr sucht. Aber diese Tatsache ist durch
in einen brodelnden Hexenkessel, „die anderen“ blicken, um eben
das Künstlertum des Freiherrn, durch den wahrhaften Freisinn
dadurch in ihrem Gefühl des Unbehagens gegenüber diesen proble¬
matischen Wesen noch verstärkt zu werden.
seines hochgebildeten verstorbenen Vaters sowie durch seine
Jugendfreundschaft zu einem jüdischen Mädchen doch einigermaßen
Daß Schnitzler Zionist sei, geht aus dem Werke nicht hervor;
verständlich gemacht. Jedenfalls will es Schnitzler so, weil er
aber untrüglich ist, daß er das Assimilantentum verwirft und
eine doppelte Absicht verfolgt. Die jüdische Welt vorzuführen,
verabscheut. Ihm einen Vorwurf aus seiner „Halbheit“ zu machen
genügt ihm nicht; er braucht die christliche neben und mitten in
oder sie zu bedauern, wie das jüngst ein zionistischer Beurteiler rat
ihr, um beide sich klar gegeneinander spiegeln zu lassen, um zu
ist kleinlich und lächerlich. Schnitzler ist vor allem Künstler und
zeigen, wie sie aufeinander rcagieren, um die ganze brückenlose
bildet das Leben nach; als solcher muß er selbst hinter diesem
Kluft zwischen ihnen sichtbar werden zu lassen. Was die absolute
Leben verschwinden, soll er es objektivieren. In seiner Objektivi¬
innere Wahrheit des Ganzen erzeugt, das ist, daß wir auf beiden
tät ist er geradezu shakespearisch. Und sie findet ihren deutlichsten
Seiten mit wenig Ausnahmen hochstehende Menschen haben, sozu¬
Ausdruck in einer über alles gebreiteten, hinter jeder Gestalt
sagen Reinkulturen ihrer spezifischen Wesenheiten, deren Grad¬
lächelnden, feinen, wahrhaft göttlichen Tronie, die nur eine unend¬
linigkeit nicht durch irreführende Bosheiten oder Verschroben¬
liche Zartheit und Milde von der Heineschen unterscheidet und die
heiten verzerrt wird. Das sczialpsychologische Resultat, die innere
vielleicht Schnitzlers feinstes jüdisches Erbe ist. Er, der Dichter,
Fremdheit der beiden Arten, ist alse weder durch groben
lebt in allen seinen Selbstgeschöpfen, aber er weiß mehr von ihnen,
Antisemitismus auf der einen, noch durch abstoßende Wider¬
als sie alle von sich wissen; seine Erkenntnis greift über sie hinaus,
lichkeiten auf der anderen bedingt. Der normale Christ und der
sie alle umfassend, und wie Gott das Weltall, erkennt er über die
normale Jude sind es, die das „neue Ghetto“ machen.
Geschöpfe hinaus seine Selbstwelt, sich. So enthalten alle seine
Mir ist kein Dichter der Moderne seit George Elliot bekannt,
Gestalten, Teile von ihn: selber, und setzen die feinste und grandioseste
der das Neujudentum in seinen Individuen so bewußt, so prägnant
Selbstbeichte zusammen die uns seit lange geschrieben worden ist.
und so gerecht, optima fide gerecht, dargestellt hätte, wie
Wen von uns hat es nicht schon tief geschmerzt, daß aus der
Schnitzler. Er gibt den ganzen, den wirklichen Westiuden, nicht
Mitte des Zionismus noch keine einzige bedeutende jüdische Dichtung
den aus dem Witzblatt, aus dem Versammlungslokal oder dem
erwachsen ist. Aber die Tatsache ist verständlich, da uns, den
Gezerre der Presse; er gibt den Juden mit allen seinen Fchlern
Fertigen, Einseitigen, Parteiischen der ausgleichende Blick, die
und Krankheiten, aber ebenso mit allem seinem Adel. Da ist der
gerechte Objektivität notwendigerweise abgehen müssen. Arthur
jüdische Emporgekommene, einmal ein biederer, einfacher Parvenü
Schnitzler, der Outsider, der Unfertige, noch Uneingeschworene,
(wohl ein Novum in der Literatur), der prächtige Ehrenberg, und
konnte den „Weg ins Freie“ schaffen. Und fast möchte ich
ihm gegenüber sein unheilbar versnobter Sprößling; da ist auch
wünschen — wie ketzerisch! —, daß er bleibe, was er ist und
ihr Pendant: der heruntergekommene Krämertyp Golowsky und
uns noch viele ähnliche Werke beschere.
sein wundervoll auftretender grundedler Leo; da ist der gütige,
Die Ernte ist doch unser!
Ierael Auerbach
tüchtige, alte, jüdische Arzt Dr. Stauber und sein Sohn,