I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 137

Frei
Der Neg
in
23. Mmaune bos 3/2
Ote
J Or
Schnitzlers Wiener Roman.
Von
Franz Servaes.
Es ist mitunter gut, erst dann über ein Buch zu schreiben, wenn es ge¬
wissermaßen seine Geschichte hat. Zumal wo es sich um einen Autor von so hohem
Namen wie Arthur Schnitzler handelt und um ein Buch wie dessen Roman „Der
Weg ins Freie“, über den schon vor seinem Erscheinen soviel gerehet und ge¬
munkelt wurde. Wie gesagt, et war recht interessant, hier eine Weite zuzusehen
und den kritischen Stimmen zu lauschen, wie sie in Zeitungs= und Leserkreisen
allmählich sich bildeten. Der erste Eindruck konnte nur der eines starken und
unbestrittenen Erfolges sein. In den Blättern, zumal den wienerischen, erschienen
tönende Lobeshymnen, in allen Auslagen, in allen mit der Zeit gehenden Häusern
fand man das Buch, „jedermann“ hatte es gelesen. Aber frei darüber sprechen
wollte eigentlich niemand. Man glaubte, es müsse wohl zum guten Ton ge¬
hören, daß einem das Buch gefallen habe. Und man sondierte ein wenig, was
wohl der andere darüber denke. Der andere dachte aber grade so, auch er wollte
lieber abwarten. Das Buch war ja so sehr gelobt worden. Wirklich? war es ge¬
lobt worden? Feine Ohren wollten Untertöne gehört haben und die Eingeweihten
wußten zu berichten, daß grade die lautesten öffentlichen Lober im engeren Kreise
ganz anders sich geäußert hätten. Und auf einmal war sie da, die Mißstimmung,
die Enttäuschung. Das Buch wurde zwar noch immer gekauft, ja jetzt erst recht.
Aber man nahm kein Blatt mehr vor den Mund, man schimpfte ungeniert drauf¬
los. Ein Wagnis war's nicht mehr, die Situation hatte sich geklärt, der „gute
Ton“ verlangte, daß man schimpfte. So in Wien. In Berlin war man weniger
rücksichtsvoll gewesen und hatte ziemlich bald unumwunden erklärt, daß man von
dem lange erwarteten großen Roman von Arthur Schnitzler sich ganz andere Dinge
erwartet hatte.
So ist also gegenwärtig die Situation. Das Buch wird „rasend“ gekauft
und beinahe einmütig verurteilt. Was hat dieses Buchschicksal zu bedeuten?
Wie ist es zu erklären? Und worin steckt der Kern seiner Berechtigung?
Zunächst wird man ohne viel Federlesens zugegeben haben, daß Schnitzlers
Roman, rein als Roman, nicht viel taugt; daß er aber dabei eine sehr an¬
genehme, überaus geistvolle Lektüre bildet. Er steht sozusagen außerhalb der
Gattung. Oder nur insofern innerhalb der Gattung, als er zwar das vom
Roman geforderte „Weltbild“ zu geben trachtet, doch kaum noch in episch=zu¬
lässigen Formen. Dieses Weltbild ist nicht aufgebaut auf starken, einander be¬
dingenden und ausgleichenden Begebenheiten, sondern es setzt sich zusammen aus
zarten feuilletonistisch=skizzenhaften Bespiegelungen. Mit anderen Worten: das
stoffliche Interesse an der Erzählung als solches ist äußerst gering. Es erscheint
beinahe gleichgültig, ob dies oder etwas anderes erzählt wird. Der Reiz des
Buches besteht lediglich in der es umhüllenden Atmosphäre, in den feinen Lichtern,
1111