I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 138

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23. Der Neg ins Freie
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Franz Servaes.
die darin aufgesetzt sind; in den noch feineren Verschleierungen, die darüber
liegen; und in dem ungemein prickelnden Timbre der sich allenthalben durch¬
schlingenden Gespräche. Damit haben diejenigen recht, die dem Buch Mangel
an epischer Haltung vorwerfen. Es wirkt nicht durch die natürliche Wucht und
Kraft seiner Substanz — wie etwa der gleichzeitig erschienene „Kaspar Hauser“.
von Jacob Wassermann — sondern durch die Erlesenheit und Apartheit seiner
Ingredienzien. Es ist irgend ein sehr nobles, unterhaltendes und geistig belebtes
Etwas, nur leider kein Roman nach dem Genuß der Gattung. Ebensowenig,
ja fast noch weniger, wie die Schnitzlerschen Bühnendichtungen Dramen vom
echten Blut eines Dramatikers sind. Und das ist wohl der Enttäuschung tiefster
Kern: daß Schnitzler, nachdem man bereits wußte, daß er kein Dramatiker ist,
nunmehr unzweifelhaft dargetan hat, daß er auch kein Romanschreiber ist. Was
ist er dann also? Ein Novellist, ein psychologe, ein Dialogkünstler, ein enorm
feiner Literat und ein ungemein sympathischer und kluger Mensch. Und in alle¬
dem zusammen gewiß ein Stück von einem Dichter — wenn er auch keine Verse
schreibt. Er ist Dichter — nicht in der „großen Linie“ (die ihm fehlt) — doch in
der Belebung des Kleinen, die voll überraschender, zartgefühlter Beziehungen ist.
Das Publikum, mag es sich auch von der ästhetischen Begründung nicht
immer Rechenschaft gegeben haben, hat dennoch scharf und unzweideutig gefühlt,
daß der „Weg ins Freie“ kein richtiger Roman ist. Es wird da erzählt von
einem Baron, der ein Liebesverhältnis eingeht und die einzige Spannungsfrage,
um die es sich hierbei dreht, ist, ob er das betreffende Mädchen heiraten wird
oder nicht. Er heiratet es schließlich nicht, was ihm dadurch erleichtert wird,
daß das Kind, welches er von ihr empfing, gleich nach der Geburt starb. Das
wird mit sehr viel Delikatesse und schöner Menschlichkeit erzählt — aber eine
Romanhandlung, auch nach den bescheidensten Begriffen, ist das nicht. Dazu
kommt, daß bei der vorgetragenen Lösung, so sehr sie uns im Grunde gleich¬
gültig ist, wir doch eine sachliche Befriedigung, sofern wir eine solche in Be¬
trachtung ziehen, kaum zu finden vermögen. Zum Schluß sagen wir dennoch:
anständiger wäre es gewiß gewesen, wenn der Baron das Mädel nicht hätte
sitzen lassen. Ist das ein philisterhafter Einwand? Ich glaube, in diesem Falle
nicht. Der Baron ist weder so vornehm noch so genial, daß er sich als Aus¬
nahmemenschen betrachten könnte; und das Mädel, wenn auch bürgerlichen
Stammes, ist ihm an Bildung und Kultur völlig ebenbürtig. Ja, sie ist ihm
in einem Grade seelisch ergeben und menschlich auf ihn gestimmt, daß er kaum
je wieder eine ähnliche passende Lebensgefährtin finden wird. Indes der Baron,
der eine Künstler= und Don Juannatur von mittlerer Begabung ist, im übrigen
kein unebener Mensch, vielmehr sanft und liebenswert in seinem Auftreten, der
Baron wünscht den Weg ins Freie zu finden. Das ist verständlich, doch das ist
seine Privatsache, die niemanden aufregen wird. Mag sein, er fühlt sich inner¬
lich behaglicher und es fällt ihm mehr ein beim Komponieren, wenn er durch
keinerlei eheliche Bande — und Anna war so nachsichtig! — gefesselt ist. Aber
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