I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 139

ins Freie
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23. Der Neo
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Schnitzlers Wiener Roman.
irgendwelche Aussicht und Gewähr, daß er nunmehr ein großer Musiker werden
wird, haben wir nicht. Gut, er ist frei! Frei von einem Weibe, das ihn liebt —
aber auch zu einem Werk, das ihn beseligt? Wir zweifeln! Oder vielmehr:
wir zweifeln nicht. Denn der Baron wird ganz gewiß niemals die großen
künstlerischen Ekstasen kennen lernen, er wird niemals den Rausch und die Kraft
unzähmbaren Schöpferwillens, in sich erleben. Der Weg, den er fand, führte
ihn nur hinaus, doch nicht in die Freiheit — in jene Freiheit ganz gewiß
nicht, die einzig dieses Namens würdig ist, die eine Erhöhung der menschlichen
Persönlichkeit bedeutet.
Somit läßt uns Schnitzlers Roman nicht bloß pragmatisch, sondern auch
ideelich im Stich. Er hat keinen Horizönt, er gewährt keinerlei weiteren und
volleren Ausblick, er verläuft sich ins Sandige und Dürre. Indem wir dieses
Urteil aussprechen, sind wir uns freilich bewußt, daß wir nie über dem zu Ge¬
richt saßen, was sozusagen dieses Romanes roter Faden ist, was aber durchaus
nicht in jeder Hinsicht sein wahrer Lebensstrang ist. So merkwürdig es klingt,
so sicher damit abermals ein Fehler konstatiert wird: das Eigentliche dieses Romans
und hiermit seine künstlerische Potenz steckt im Beiwerk. Dieser Roman lebt
gleichsam von diesem Beiwerk, oder, wienerisch ausgedrückt, von seiner „Zuwag'“.
Ja man hat den Eindruck, daß er um der Zuwag' willen vor allem geschrieben
sei; daß dem Dichter selbst daran oft im Grunde mehr gelegen war als an dem
allzu simplen Menschenschicksal, das zufällig in der Mitte steht. Der Baron
und sein Mädel sind Arier und so auch noch ein paar andere, die in dem Buche
mitzureden haben. Aber auch bloß mitzureden! Die Stimmfährer, die Ener¬
gien, die wahren Mittelpunktmenschen sind durchaus die Juden. Natürlih die
Wiener Juden, die eine Sorte ganz für sich sind, zwar stark mit östlichen Eie¬
menten gemischt, doch tiefer und erfreulicher ins Kulturganze ihrer Vaterstadt
aufgegangen als irgendwo sonst in deutschen Landen. Sie spielen demnach eine
sehr maßgebende Rolle in der besten Wiener deutschen Gesellschaft, unterhalten
auch Beziehungen zum alten österreichischen Adel und sind voll des brennenden
Interesses und der edelsten Förderung für alles, was „Kultur“ heißt. In diese
jüdisch=kulturellen Kreise sind nun der Baron und sein Mädel mitten hineingestellt
nicht aber aus zwingenden Gründen. Man kann sagen: es ist als Aus¬
nahmefall möglich oder doch immerhin denkbar; wahrscheinlich oder gar typisch
ist diese überall herrschende und sich vordrängende soziale Verbindung nicht.
Doch nehmen wir sie einmal kritiklos als gegeben an und lassen wir den Baron
und seine Liebste nunmehr völlig draußen: denn in dieser hocherregten und witz¬
funkelnden Gesellschaft spielen diese beiden schlichten Menschen doch nur eine
ziemlich geringfügige Rolle; sie werden zwar mit Auszeichnung und Sympathie,
doch auch mit einem kleinen vielleicht nicht ganz eingestandenen Gefühl von Über¬
legenheit begrüßt.
Was ist nun über die von Schnitzler geschilderte Wiener Judengesell¬
schaft zu sagen? Vor allem, daß sie über fast nichts anderes spricht als eben
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