I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 140

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23. Der Ner in
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Franz Servaes.
über die Juden. Es gibt keinerlei Anlaß, der so fernliegend wäre, daß er sich
nicht schließlich doch wieder auf die Erörterung der so mannigfaltigen Juden¬
fragen zurückführte. Vom Standpunkt des Romanlesers kann man hierüber
manchmal ungeduldig werden. Als Volks= und Sozialpsychologe aber erfährt
man die interessantesten Dinge. Und da die modernen Juden mit ihrer fabel¬
haft ausgebildeten Kunst der witzigen Silbenstecherei wohl die glänzendsten
Causeurtalente der Gegenwart sind, so sind ihre Gespräche jedenfalls sehr unter¬
haltend, oft blendend und faszinierend. Und selbe: ständlich beherrscht Schnitzler,
der ihres Stammes ist, den jüdischer ##ervationston mit voller Souveränität.
Merkwürdig ist allerdings eines: der Mangel an Ernst in diesen Gesprächen von
Juden über Juden. Ja, man kann sagen: nichts ist so sehr verpönt als jeder
solide Ernst. Dieser wird allenfalls bei Nichtjuden nachsichtig geduldet. Als
Rasseangehöriger aber macht man sich sofort lächerlich damit. Es ist demnach
auch unstatthaft, die Judenfrage selber ernst zu nehmen. Und in der Tat ist
ein alter Hebräer, der sich als Zionist bekennt und aus seinem fanatischen Juden¬
tum (er riecht überall Antisemiten) kein Hehl macht, eine betont lächerliche Figur.
Und doch tut dieser Alte (es ist ein reichgewordener Patronenfabrikant) einmal
etwas, durch das er sich mehr als ein anderer Jude unsere Achtung erwirbt: er gibt
nämlich seinem geckenhaften Sohn, der, um sich bei seinen aristokratischen Freunven
einzuschmeicheln, vor einer christlichen Kirche den Hut abzieht, auf offener Straße eine
schallende Ohrfeige. Über diese Ohrfeige wird im Roman viel lamentiert; ja, sie hat beinahe
tragische Folgen. Und doch wirkt sie wie eine Art von Luftreinigung. Sie zeigt, daß es
in dieser ewig witzelnden, alles zerzweifelnden, nichts von Herzensgrund respektieren¬
den Gesellschaft doch auch Leute gibt, die eines ganz einfachen unzweideutigen
Denkens fähig sind und mögen sie diesem vielleicht auch einen etwas brutalen
und jähen Ausdruck geben, es steckt doch die Kraft und Überzeugung einer noch
entwicklungsfähigen Rasse darin. Bei fast allen anderen stehen wir vor der
„ewigen Wahrheit, daß ein Jude vor dem andern nie wirklichen Respekt hat“.
(was ich mir indes gestatte, auf die degenerierten Juden in den europäischen
Kulturstädten hiermit einzuschränken). Ihr ewiges Bohren in den eigenen
Schmerzen und Leiden, wenn es sich auch zumeist in witzig=frivole Formen kleidet,
erzeugt in ihnen jene Unsicherheit über sich selbst, die so seltsam mit ihrem
äußeren, scheinbar höchst selbstbewußten Auftreten kontrastiert. Indes, „es braucht
nicht viel“ bekennt einmal einer von ihnen, „um die Selbstverachtung aufzu¬
wecken, die stets in uns schlummert“. Wie es scheint, war es für Schnitzler
von besonderer Wichtigkeit, diesen wunden Punkt in der Seelenkomplexion des
heutigen Kulturjuden aufzudecken: dieses unablässige Denken an sich selber, dieses
peinigende Mißtrauen in seiner sozialen Lage. Darum läßt Schnitzler wohl auch
den Baron eine dementsprechende Bemerkung machen. „Wo er auch hinkam“,
heißt es, „er begegnete nur Juden, die sich schämten, daß sie Juden waren, oder
solchen, die darauf stolz waren und Angst hatten, man könnte glauben, sie
schämten sich.“
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