I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 141

23.
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Schnitzlers Wiener Roman.
So unerfreulich Schnitzlers Judengesellschaft als Gesamtheit wirkt, so glänzend
zeigt sie sich, wenn man den einzelnen heraushebt und für sich betrachtet. Welche
Fülle von Talenten, welche Energie der Selbstdurchsetzung, welche tiefe Wahrheit
und Menschlichkeit oft auf der Persönlichkeit letztem Grunde. Sind diese Leute
der Sphäre der Jour= und Kaffeehausgespräche, wo sie wie die Sporenhelden der
Hahnenwettkämpfe einander gegenüberstehen, glücklich entrückt, so zeigt sich viel¬
fach ein wahrer und ernster Wert. Und jedenfalls sind die meisten scharf ge¬
schliffene Persönlichkeiten mit interessanten Physiognomien, Alte und Junge,
Männer und Frauen. Sehr interessant sind ihre Beziehungen einerseits zu den
Feudalkreisen, andererseits zum Sozialismus. Und es gibt dabei zuweilen höchst
seltsam schillernde Erscheinungen, wie besonders jenes arme schöne Mädel, das
sich sonder Scheu für seine revolutionäre Überzeugung ins Gefängnis sperren
läßt und das doch ein sich bietendes Verhältnis zu einem eleganten Kavallerie¬
offizier, zumal wenn es mit einer Reise nach Lugano verbunden ist, im Vor¬
übergehen gerne mitnimmt — ohne darum seine agitatorische Tätigkeit an den
Nagel zu hängen.
An diesen und ähnlichen Lebenszügen ist Schnitzlers Roman überaus reich
und sie alle werden mit einer Sicherheit und Elegenz in das Gesamtbild ein¬
gewebt, das von höchstem künstlerischem Können zeugt. Dazu die schmiegsame,
ausdruckreiche, der leifesten Schattierungen fähiger Sprache, die auch von einem
völlig frei ist, von jeder Art von Pathos. Diese milde, abgetönte, durchaus ge¬
lassene Vortragsweise paßt sehr gut zum Charakter des Romans, der ein echter,
schlenderfroher Spaziergängerroman ist, hierin den Alterswerken Theodor Fontanes
sehr wohl vergleichbar.

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