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ins
23. Der
Mesten erniebrigt; er schildert auch nicht die Zweifel und
Qualen, die das Opfer dieses Verfahrens angesichts einer so man¬
gelhaften Hingabe beschleichen. Er führt den Leser nur vor ein
fait accompli und entwickelt die Geschehnisse mit endloser Ge¬
sprächigleit bis zur Trennung. Daß eine freie Liebe nicht künst¬
lerisch zu verklären oder philosophisch zu erörtern sei, wird kein
Einsichtiger behaupten wollen, aber es muß zunächst und vor allen
Dingen berichtet werden, wieso der gerade Weg gemieden wurde.
Es ist doch wahrhaftig für ein Mädchen aus gutem Hause keine
Kleinigkeit, ihre bürgerliche Ehre zu opfern. Man muß also, wenn
man des Autors Versicherung von ihrer geistigen und sittlichen
Vollwertigkeit wirklich glauben soll, klar sehen, daß sie einem noch
größeren und heiligeren Zwang als dem der Alltagsmoral folgt.
Statt diesen Zwang zu nennen, tut aber der Autor so, als müsse
jeder Vernünftige ohne weiteres die Notwendigkeit einer solchen
Verbindung für einen ringenden Künstler und ein liebevolles jun¬
ges Weib zugeben. Er tadelt die Eltern daß sie nicht die wün¬
schenswerte Einsicht zeigen, und dabei sind die guten Leutchen von
einer schier unbegreiflichen Toleranz. Mit dem Bedenken aber
gegen diesen Angelpunkt des ganzen Romans ersteht notwendiger¬
weise ein ablehnendes Gefühl gegen ihn, das nur durch ein künst¬
lerisch hochbedeutsames Drum und Dran getilgt werden könnte.
Hier aber zeigt sich eine weitere Schwäche des Autors: Der Mangel
an Komposition. Mit peinigender Genauigkeit werden zahllose Ge¬
spräche, die nur selten von eingreifender Bedeutung sind, bis aufs
„und“ registriert, wobei dem außerösterreichischen Leser das ewige
„ich bin gestanden“ und was es noch weiter an Austrizismen gibt,
auf die Nerven fällt. (So sagt Schnitzler auch: der Gehalt, wo er
vom Einkommen spricht, also das Gehalt sagen müßte!) Ferner
ist es für nötig befunden worden, eine Unzahl von Personen auf¬
treten zu lassen, die, meistens beim Vornamen genannt, ein ganz
beneidenswertes Gedächtnis beim Leser voraussetzen, um sich ihrer
im gegebenen Fall zu erinnern. Anhäufung von zahllosen Szenen
ergibt noch keine Handlung, und die immer wiederkehrende Grund¬
note: das ewige Hin= und Herschwanken zwischen Liebe und Sehn¬
sucht nach persönlicher Freiheit, ist kein genügendes Bindeglied.
Ohne jeden Zusammenhang mit diesen hauptsächlichen Vor¬
gängen klemmt sich als ganz unorganischer Bestandteil des Romans
noch ein anderes Motiv dazwischen: die Judenfrage in Österreich.
Man kann Schnitzler gern das Zeugnis geben, daß er sich in
der Erörterung dieser Frage löblicher Objektivität befleißigt hat;
er verteilt Licht und Schatten mit anerkennenswertem Gerechtig¬
keitssinn. Die innere Zerrissenheit des modernen Juden führt er
auf ihre Ursachen zurück, und er zeigt die Folgen der Zustände
mit vornehmer Sachlichkeit. Aber immer wieder fragt sich der Leser,
wenn sich dieses Nebenmotiv hervordrängt und das Hauptmotiv
beinahe überwuchert, was denn dies alles mit der Handlung eigent¬
lich zu tun habe. Es soll nicht bestritten werden, daß der moderne
Wiener Roman als Sittenschilderer auch die zeitgenössischen Juden
in sein Bereich ziehen darf. In Wien, und besonders in dortigen
Künstler= und Literatenkreisen wird gewiß die Judenfrage zu ganz
besonderen Erörterungen Anlaß geben. Aber wenn das geschieht,
so müssen auch die dementsprechenden Vorgänge mit zwingender
Notwendigkeit auf Ursachen und Wirkungen der eigentlichen Hand¬
lung Einfluß nehmen, oder nur ganz nebenher abgetan werden.
Gönnt man ihnen aber einen so breiten Raum wie hier, so fällt
eine Lücke zwischen ihnen und der Handlung als schwere Stö¬
rung auf.
FRT
DRUT
Es ist manche reizvolle und geistreiche Einzelheit, manche inter¬
essante und eigenartige Episode in diesem Roman enthalten. Aber
als Ganzesknn er weder nachhaltig fesseln oder spannen, noch
künstlexisch oder ästhetisch befriedigen.
P. Al. Kleimann.
□
Der Weg ins Freie 79
Von Hermann Kienzl (Berlin)
in Buch, das Sensation macht, soll man „ab¬
□ laufen“ lassen. Nicht, um aus neunundneunzig
Urteilen das hundertste zu geben. Nicht, um über
Ja und Nein als weiser Salomo zu thronen. Doch
was so viele im Augenblick erregt, lenkt möglicher¬
weise auch einen Willen zu unbefangener Empfängnis
auf Streitobjekte ab, die nur vorübergehend den
Schwerpunkt bilden.
Ein so stilles, so kontemplatives Buch wie
lers Roman!) — und Sensation? Am S#
des.Richk an der psychologischen Materie (man darf
im übertragenen Sinn diesen Terminus schon gelten
lassen), sondern an der soziologischen. Doch hat
diesen Stoff kein Weltverbesserer, kein Sozialpolitiker
behandelt. Nur ein Lyriker. Was ihm, dem Dichter,
das Judentum an Wert und Leid bedeutet — vor
allem an Leid —, das auszusprechen war er gedrängt.
Nicht um Haaresbreite vorwärts gelangt er in der
„Judenfrage“. Sie ist ihm eine ganz persönliche
Frage, so umfassend, so erschöpfend das Panorama
des jüdischen geistigen Wien geriet. Nur daß die
Menschen es anders lesen, als er es schrieb. Die Leser
sind selbst wie alle die Personen im Roman: sie bringen
ihr persönliches und ihr soziales Interesse schon vorweg
an die Materie heran, wollen nicht die heimlichen
Fragen des Einzelnen, des Dichters, hören, — wollen
Antwort haben auf ihre gemeinsamen Fragen. So
geht es, wenn eine ganz persönliche Dichtung sich
an den Rand eines „aktuellen Themas“ begiebt. Und
Sie, die selbst die
nun gar die Judenfrage ...!
vorurteilslosesten Gemüter, nicht am wenigsten die
jüdischen, in leidenschaftliche Bewegung versetzt, sie
macht die meisten unfähig, sich mit dem sanft bewegten
Dichter einer innerlichen Betrachtung dieser Dinge
gist kein entsprechendes
hinzugeben.
der grausamen „schull
Man wird jetzt und in Zukunft kaum je wieder
Liebe zu Anna Rosn
auf dem Gebiete des hier gewählten gesellschaftlichen
gegeben hat, so ist
Segmentes einem solchen Wissenden begegnen. Denn
gegen die keine gelo
nicht nur Erfahrenheit und Beobachtung, nicht nur
Dunkelheit empfinden
Einfühlung, sondern auch — und vor allem — das
Licht hell geleuchtet
Gefühl angeborener Genossenschaft hat in diesem Buch
Streichholzes ist
eine tausendfach in ihren individuellen Bestandteilen
500 Druckseiten, und
differenzierte und doch in sich abgeschlossene Welt ge¬
jener Anna, des
spiegelt. Ja, das unmittelbare Gefühl, — und zwar
Mädels“ (in höherer
das alles verstehende Gefühl eines Genossen, der
eine volle Tragik aus,
zugleich innerhalb und außerhalb dieser Sphäre
gleichwertigen Teilen
leut, der mit den erlesc
n