I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 154

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Dichter einer innerlichen Betrachtung dieser Dinge
hinzugeben.
Man wird jetzt und in Zukunft kaum je wieder
auf dem Gebiete des hier gewählten gesellschaftlichen
Segmentes einem solchen Wissenden begegnen. Denn
nicht nur Erfahrenheit und Beobachtung, nicht nur
Einfühlung, sondern auch — und vor allem — das
Gefühl angeborener Genossenschaft hat in diesem Buch
eine tausendfach in ihren individuellen Bestandteilen
differenzierte und doch in sich abgeschlossene Welt ge¬
spiegelt. Ja, das unmittelbare Gefühl, — und zwar
das alles verstehende Gefühl eines Genossen, der
zugleich innerhalb und außerhalb dieser Sphäre
lebt, der mit den erlesensten deutschen Kulturträgern
jüdischen Blutes den Zwiespalt des Heim= und
Fremdseins, der Zugehörigkeit und Losgelöstheit, der
tiefen Neigung und Abneigung gegen die Rasse
in sich trägt. Mehr oder weniger ist dies freilich
das charakteristische Verhältnis aller Menschen hoher
Art zu ihrer Umgebung. Daher scheint mir der Kern
der schniglerschen Dichtung ein kleiner, tiefsinniger
Satz zu sein, den eine Person des Romans ausspricht.
Er gestatte sich, sagt ein gewisser Räsonneur, den
Antisemitismus geradeso wie das Anti=Ariertum,
denn — „jede Rasse als solche ist natürlich wider¬
wärtig, nur der einzelne vermag es zuweilen, durch
persönliche Vorzüge mit den Widerlichkeiten seiner
Rasse zu versöhnen ...
Ein solches Glaubens¬
bekenntnis, das jedoch nicht programmatisch oder
tendenziös den Gestalter beirrt hat, macht das Mi߬
verstehen vieler Leser immerhin begreiflich.
Dem Kunstwerke, das da geschaffen werden sollte,
war die wichtigste, die unerläßlichste Vorbedingung
gegeben: es stammt, wie es in keinem Teil ver¬—
leugnet, aus echtem Künstlertum und von einem
echten Künstler; dennoch ist aus aller Kunst, aus
allen künstlichen Teilen das Kunstwerk nicht ent¬
standen. Ich rechte nicht mit der unhandlichen Form
des Romanes, dessen Breite nur dem äußeren Scheine
nach „episch“ genannt werden mag, während sie
ganz und gar lyrische Gedankenfülle ist. Die Norm
des Romans und die Abnormität des schnitzlerschen
Baues beängstigen mein Kunstgewissen nicht. Die
lyrische Gefahr war aber in anderem Belang
ernster und folgenschwerer. Wieder einmal hat
ein Schaffender — und diesmal einer, der sonst
über sich und seine Innenwelt mit Kraft zu
herrschen wußte — in seinem drängenden Bedürfen
verwechselt, was subjektiv für ihn —
und was
für alle bedeutsam ist. Die Intimität des Erlebten
hebt die tragende Person des Romans nicht bis zu
unserem Interesse empor. Und das müßte sein, sollte
man in dieser alltäglichen Tragödie weiblicher Selbst¬
aufopferung und männlicher Untreue den fatalistischen
Fluch vernehmen, „daß alle Dinge so vorüberglei¬
ten.
Der junge Asthet Baron Wergenthin liebt ein
Bürgermädel, ein Geschöpf mit wahrhaft adeliger
Seele. Sie feilscht nicht um Rechte, sie spekuliert
nicht auf des Mannes Pflichten; sie gibt in schwei¬
gender Selbstverständlichkeit der Liebe dem Ge¬
liebten alles hin. ... Dann wird sie die Mutter
seines Kindes, aber eines toten Kindes. Und dann
allmählich, fast selbstverständlich, löst sich im Innern
des Mannes, was für die Ewigkeit geknüpft schien;
vollendet die Kurve der Leidenschaft im Mannes¬
herzen ihren Abstieg. Wenn das Mädchen ihn fest¬
hielte, er wäre nicht der aktive Bösewicht, sie ab¬
zustoßen; er würde die Pflicht des Lebensbundes
auf sich nehmen. Aber Anna liebt ihn. So selbst¬
los liebt sie, daß sie schweigend seine Verpflichtung
löst.
Und er zieht seines Weges.
Dieser Baron Wergenthin, bloß ein Di¬
lettant der Kunst und der Liebe und des Lebens,
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Gist kein entsprechendes Objekt für die Demonstration
der grausamen „schuldlosen Schuld“. Wenn seine
Liebe zu Anna Rosner erlischt, die ihm ihr Leben
gegeben hat, so ist das natürlich eine Wahrheit,
gegen die keine gelogene Treue aufkäme; aber
Dunkelheit empfinden wir nur stark, nachdem ein
Licht hell geleuchtet hat. Das Verglühen eines
Streichholzes ist zu wenig merkwürdig für fast
500 Druckseiten, und sogar die astralische Güte
jener Anna, des neuesten schnitzlerschen „süßen
Mädels“ (in höherer Art und Form), löst nicht
eine volle Tragik aus, weil das Paar aus so un¬
gleichwertigen Teilen gekoppelt und die selbstlose
Liebe des Weibes so töricht an den Unbedeutenden
vergendet war. Nur als Projektionsplatte für die
Schatten der Typen und Gestalten leistete der passive
Mann dem Dichter gute Dienste. Dieser Vorzug
wurde jedoch zum Vater des entscheidenden Fehlers:
Wäre eine stärkere Persönlichkeit die Achse des
Romans, so käme das Gesetz der künstlerischen Har¬
monie zur Geltung; ihr Fehlen teilt die Eiheit des
Gedankens in wirr zerflatternde Episoden auf.
Und doch: Keine Episode ohne Reiz und Wichtig¬
leit. Kein Wort sozusagen, das der Feinschmecker

nicht mit stillem Genusse schlürfte. Oktoberwehmut
über dem lieblichen Gelände von Wien umspinnt uns,
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ohne daß ein einziger unkeuscher Ton aus dem so¬
genannten „goldenen wiener Herzen“ käme. Das
Kunstwerk hat nicht gelingen wollen. Doch das
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Werk des schönen, sinnigen Künstlers ist der Gewinn.
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Rezensions-Beleg.
Anhaltischer Staats-Anzeiger, Dessau.
S. ZUF 87770 K
— Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie. Roman.
S. Fischer, Verlag. Berlin 1908.
Arthur Schnitzlers ersten großer Roman spielt in Öster¬
reich, ein Gegenwartsroman,der, ein paar Monate aus dem
Leben Wiener Künstler erzälllt wenn anders Politik auch
Kunst ist, wie ja Treitschke erksthaft behauptet hat. Anders¬
wo las ich, sie sei eine Wissenschaft. Aber Dr. Stauber im
Roman hat recht: Sie ist ein Geschäft, und kein reinliches.
Das gilt wahrhaftig nicht nur für Österreich, wie denn auch
mancherlei andere Sentiments über die schwarzgelben Grenz¬
pfähle hinaus ihre internationale, allzumenschliche Geltung
haben. „Bei uns (in Österreich)“ sagt derselbe Dr. Stauber,
„ist die Entrüstung so wenig echt, wie die Begeisterung. Nur
die Schadenfreude und der Haß gegen das Talent, die sind
echt bei uns." Und ich glaube: Das Echo aller Länder
Europas könnte ihm zurufen: Auch bei uns! Aus Ekel
vor dem ganzen unsauberen und rohen Treiben im politischen
Gebaren legt der junge, gescheite und reinlich empfindende
jüdische Gelehrte sein Mandat nieder. Eine sehr sympathische,
saubere Menschengestalt hat Schnitzler in diesem Doktor ge¬
zeichnet. Es klingt wie eine Renaissance des Judentums aus
dem Fühlen und Handeln dieser Jugend im Roman, die bei
weitem gleichfalls nicht auf Österreich beschränkt ist. Willy
Eißler ist der geradezu vorbildliche Typus der aufstrebenden,
ihres Wertes sich bewußt werdenden Jugend. Anlage, Lieb¬
haberei und eiserner Wille hatten aus ihm das täuschende
Ebenbild eines geborenen Kavaliers geschaffen. Er war ge¬
wohnt, seine Abstammung nie zu verleugnen, für jedes zwei¬
deutige Lächeln Aufklärung oder Rechenschaft zu fordern, und
sich gelegentlich über alle Vorurteile und Eitelkeiten, in
.