I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 167

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ins Freie
Der
23. LIHS ME
Seite 738
Nr. 42
Dr. Bloch's Wocbenscbrift.
Deshalb kennt er keine Treue, weil er sich nicht an den
ist ein Beweis dafür, wie wenig wir es wagen dürfen, natür¬
Menschen im Weib, sondern aus schließlich an das Weib
lich und wahr zu sein. Der „Weg ins Freie“ ist gar kein
klammert und weil seine Seele eine ewig wechselnde Berüh¬
Tendenzroman, am allerwenigsten ein zionistischer. Denn mit
rung braucht, um in Schwingungen zu geraten.
derselben Vollendung, mit der ein Leo Golowski geschaffen
Dies ist der Held des vorliegenden Romanes und eigent¬
scheint, ist auch die Gestalt des sympathischen Freiherrn
Felician, der Bruder Georgs, gezeichnet, und es wäre somit
lich nichts weniger als ein Held. Denn äußerlich vollzieht
ein Leichtes, den Roman auf diesen glänzenden Aristokraten¬
sich nichts Großes in seinem Leben, als daß höchstens ein
typus hin zu einem Roman der oberen Zehntausend zu
Weib um seinetwillen ihre gesellschaftliche Stellung und den
machen.
landläufigen Begriff Ehre vernichtet, ohne mehr von ihm zu
verlangen, als daß er ihren Inhalt ausschöpfe und sie wie
Der Roman spielt überdies in Wien in einer Gesell¬
ein gelesenes Buch beiseite lege. Die Möglichkeit einer solchen
schaft von Menschen, in der die Juden zu übersehen dem
Handlungsweise läßt einen großen Schluß auf die Wirkung
eingefleischtesten Arier nicht möglich geworden wäre. Es ist
seiner Innerlichkeit zu. Wenn sich auch in ihrem Herzen Wünsche
ein Verdienst Schnitzlers, sie so gegeben zu haben, wie sie
regen, daß er sie zu seiner ewigen Gefährtin machen möge,
sind, nichts beschönigt und nichts herabgesetzt zu haben. Und
zu einer Zeit, in der die Enttäuschung ihren Reif auch auf
weil sich endlich jemand gefunden hat, der diesbezüglich den
ihre Liebe gelegt hat, erkennt sie, daß ein unüberwundenes
Mut hat, unnachsichtlich wahr zu sein, deshalb erscheinen die
Muß, eine unbewußte Selbstsucht in ihm ihn von jedem
jüdischen Gestalten dieses Romanes trotz aller ihrer Schwächen
Hemmnis befreit. Und da sie begreift, daß nicht ihr gesell¬
und Fehler sympathisch und interessant.
schaftlicher Mißgriff, nicht ihre untergeordnete soziale Stel¬
Von der prachtvollen, ehrlichen Erscheinung des alten
lung es sind, die ihn abhalten, das große Opfer liebevoller
Ehrenberg führt ein direkter Weg zur Renegatennatur
Torheit zu bringen, sondern einzig und allein ein seelischer
Oskars, seines Sohnes. Da ist Else Ehrenberg, die eine
Zug egoistischer Einsamkeit — da tritt sie schweigend in ihre
starke, jüdische Eigennatur vom Vater ererbt hat und klug
Dunkelheit zurück und läßt seine Sehnsucht hinausziehen, über
genug ist, sie nicht zu verleugnen wie ihr Bruder Oskar,
ihr Herz, ins Freie.
oder so zu betonen wie ihr Vater. In ihrer etwas unaus¬
Einst gab es eine Zeit, wo der kühle, bewußte Zug
gesprochenen Art, von einer unklaren Sehnsucht erfüllt, steht
im Leben dieses Mannes einem warmen Gefühle unterlegen
sie zwischen den Ansichten und den Menschen. Und in ihr
wäre — aber das Kind, das ihn zu fesseln aufing, starb
regt sich bereits jener spezifisch jüdische Skeptizismus, der in
und mit ihm zerriß das einzige Band, das ihn dauernd an
den beiden Literaten Bermann und Nürnberger überaus stark
den Besitz einer Frau binden konnte. Und es ist auch für
entwickelt scheint und der im Grunde nichts weiter ist, als
ihn besser so. Für Georg Wergenthin darf die Liebe kein
innere Haltlosigkeit. Das sind Juden, wie sie das Leben
Schicksal sein, aus der er die tiefsten Leidenschaften schöpfen,
täglich zeigt, die der Dichter mit scharfem Blick erfaßt hat
an der er sich aber auch verbluten kann, sie darf ihm nicht
und die er so zu bringen wagt, wie sie wirklich sind. Auch
mehr sein, als ein Erlebnis, das seine Tiefen aufwühlt, aber
das ist ein Beweis von Liebe, bei aller Objektivität, einer
vorüberrauscht. Und wenn an diesem konsequenten Selbst¬
Liebe, die sich ihre Urteilskraft gewahrt hat.
empfinden Menschenherzen wie Halme zerbrechen sollten —
Der Dichter hat sich über die Parteien gestellt und
über sie hinaus führt für ihn ein Weg ins Freie. Das ist
läßt sie reden und handeln, als ob sie nicht seine Geschöpfe
eine Eigenart, so wie die zärtliche Ergebenheit eines Trou¬
wären. Das vermehrt den lebendigen Eindruck des Romanes.
badours, wie die starre Treue eines Toggenburg und wie
Aber das, was oft zwischen den Zeilen zu lesen ist, das
die totbringende Leidenschaft eines Lenau. Es ist seine Be¬
was aus des Dichters Herzen zu kommen scheint, das steht
stimmung und somit auch sein Schicksal.
fern von jeder Parteipolitik und wird uns durch Georgs
Georg Wergenthin ist eine komplizierte, feingeistige,
Empfindungen immer und immer wieder klar gemacht, wenn
dabei zielbewußte und etwas destruktive Natur. Diese Kom¬
seine Gefühle, die ihn in diese Gesellschaft locken und ihn
pliziertheit in eine logische Form der Entwicklung zu bringen,
abstoßen, sich zu verwirren drohen, wenn er gleichzeitig be¬
dazu gehört die gereifte Menschenkenntnis eines Schnitzlers,
wundern und verachten muß: Daß wir bestenfalls und trotz
dem Herzen dieser Art wie klares Krystall sind, dazu gehört
aller Positionen exotische Fremdlinge sind, die man wie
die Wahrheit eines Zola, ohne seine zerschmetternde Wirkung.
fremdartige Tiere anstaunt. Eine polemische Absicht aber
Schnitzler tönt alles ab, seine Leidenschaften werden nicht
fehlt diesem Roman, der nur für Georg Wergenthin aber
häßlich und abstoßend, die Schmerzen nicht widerwärtig. Es
nicht für uns Juden eine Erlösung sucht.
ist dieselbe Gesellschaft schließlich und über sie wird dasselbe
Thekla Blech.
gesagt. Aber es ist bei ihm alles auf ein weiches Adagio
gestimmt und alles endet in ein mildes tout comprendre..
Die Inquisition in Meriko.
Die zwei Gestalten, die durch den Roman gehen und
deren Schicksal sich in ihm erfüllt, Georg Wergenthin und
Die letzte Nummer des „Mexican Herald“ enthält
Anna Rsner, sie leben in einem Kreis von Menschen, der
einen sehr lehrreichen Artikel über die Geschichte der Juden¬
uns unendlich nahesteht. Fast hat es den Anschein, als ob
verfolgungen in Mexiko, den wir, da er viel neues Geschichts¬
der Roman seine Bedeutung nicht der kühn durchgeführten
material enthält, auszugsweise hier wiedergeben.
Psychologie der Beiden, sondern der wunderbaren Charak¬
Nach der Entdeckung der neuen Welt hatte Spanien
teristik eines Kreises von Menschen, die mitten aus dem
die Inquisition auch in seinen amerikanischen Kolonien eta¬
Leben gegriffen scheinen, verdankt.
bliert, indem es gegen Marannen und Juden, die sich hieher
Man hat den „Weg ins Freie“ fälschlicherweise einen
geflüchtet hatten, das hochnotpeinliche Verfahren einleitete.
Judenroman genannt. Das ist er gewiß nicht und schon seine
Der erste, der in New=Espannola auf Grund der neuen
beiden Hauptgestalten widersprechen einer solchen Behauptung
Inquisition verurteilt werden sollte, war Diego Caballero,
von vorneherein. Er ist nur der erste Roman, der den Mut
ein Sohn des neuchristlichen Barrameda. Die Inquisition
hat, auch die Juden einer gewissen Gesellschaftsklasse so zu
wurde in Mexiko im Jahre 1571 eingeführt und drei Jahre
zeigen, wie sind, mit ihren guten Eigenschaften und mit ihren
später wurde das erste Autodafé abgehalten. In der Zeit
Fehlern, auf die ihnen der freimütige Dichter dasselbe Recht
von 1574 bis 1593 wurden daselbst neun Autodafés ver¬
gibt, wie den anderen. Daß dieser sympathische Mut, der
anstaltet. Bei der Hinrichtung am 8. Dezember 1596 be¬
nur der Ausdruck eines realistischen Wahrheitsempfindens ist,
fanden sich 60 Personen in der Armensünderzelle, während
sofort für Kampfruf und Bekenntnis gehalten wird und daß
am 25. März 1602 über 100 Juden den Scheiterhaufen
selbst die Juden hinter ihm Absicht und Tendenz wittern, betreten mußten. Im Jahre 1608 wurde Jorge de Almeida