I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 168

23. Der Neg ins Freie
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DETRFIS AE
besseres Brot suchen, als sie's in Chrudimen oder Königgrätz
fühlchen dieses Wichtes üb
schon Stammes¬
finden könnten. In der zweiten sind sie
zu müssen. Weibische Wel
wiener, die auf die „böhmische Bagasch“ schimpfen, und
0
Das ist's. Wien ist ein
in der dritten — manchmal brauchen sie gar nicht so lange —
Feuilleton.
die Wienerische, ist weibisch
entwickeln sie sich zu waschechten — deutschnationalen Anti¬
lich. Daher der Gefühlsku
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semiten. Da hilft kein Sträuben, keine böhmische Theater¬
grazie, und der Mangel an
In
Evoe
vorstellung und keine Beseda; in Wien gehen jährlich der
Daher freilich auch die
Wiener Brief.
slawischen Allmutter mindestens so viele Tausende verloren,
einem künstlerisch empfinde
wie im gemischten Sprachgebiet durch politische Kniffe hun¬
(Spätsommer. — Das slawische Wien. — Schnitzlers „Weg ins Ffreie.“
Wien so angenehm macht.
derte Deutsche slawisiert werden. Solange wenigstens die
Theaterleben. — Sport.)
auf banale Nützlichkeit gest
Stadtvertretung daran festhält, daß Wien eine deutsche Stadt
bessere Familie, vielleicht so
Von Dr. Hugo Ganz (Wien).
ist und slawische Schulen nicht duldet. Es gibt schon
am wichtigsten ist, ohne viel
eine. Damit aber sei's auch genug. Wer ein Böhm' blei¬
Unter meinem Fenster quirlt und braust der Strom der
man kaum eine Straße in
ben will, kann zuhause bleiben.
Sonntagspilger, die zu den Hängen des Wiener Walds hin¬
wo nicht aus irgend einem
Streit, Streit! Ich habe dieser Tage Schnitzlers
überstreben. Durch die Scheiben grüßt die lange Kette der
oder Quartetts klingen; d
„Weg in's Freie“ gelesen. Ein Wiener Roman. Rich¬
bis zur Donau abschwellenden bunten Hügel, jeder wie
kleines Kunstwerk sein; das
tiger: ein Wiener Judenroman. Ich will in diesem Zu¬
eine echte Woge von einem weißen Kamm gekrönt.
legenheit der Bevölkerung
sammenhang nicht von den literarischen Qualitäten
Darüber liegt der mildolaue Herbsthimmel und die
schauspielerischen Talente
dieses reifsten Schnitzlerschen Buches reden. Mich interessiert
Sonnenstrahlen spielen goldig in den Kupferfäden der
der ganze Segen daher, daß
augenblicklich mehr die Schilderung der Wiener Sitten und
großen Telephonspinne und im roten Laub der sich entfärben¬
einer herzwarmen Frau,
Gesinnungen, die den eigentlichen Inhalt des Buches aus¬
den Gärten. Es ist ein Oktobertag von ungewöhnlicher
regiert worden sind.
machen. Ein so gescheiter, geachteter, erfolgreicher Schrift¬
Wärme und Schönheit, und wer nicht gefesselt ist durch Ar¬
steller wie Schnitzler kommt aus dem quälenden Gefühle nicht
beit, Krankheit oder Leidenschaft, der eilt hinaus, das letzte
Und doch ist Wien als
heraus, daß er, weil er ein Jude ist, hier doch nur die Rechte
Lächeln des noch einmal rückwärts grüßenden Sommers zu
kommt es, daß Berlin g
eines Fremden von Distinktion genieße. Alle seine Figuren,
genießen. Es gibt also doch noch Leute, die unbekümmert um
geworden ist und Wien
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Männer wie Frauen, Dichter, Lebejünglinge, Kaufleute, schla¬
des Reiches Nöte und östliche Wieren von der Erde nichts
seinen dramatischen Premi
gen sich mit dem Judenbewußtsein herum, aggressiv wie der
anderes wollen, als Raum für rüstige Wanderschritte und ein
lich so? Die erfolgreichstel
Zionist Leo Golowski oder in fanatischem Assimilationsdrang
Plätzchen zum Lagern unter blauem Himmel. Und ihrer
warengeines Wissens „Dic
wie der Reserveleutnant Oskar Ehrenberg. Haben die Juden
sind so viele, daß der Strom schon fast zwei Stunden ununter¬
traum", beide Wiener Pro
hier wirklich nichts besseres zu tun, als an ihrer Abstammmung
brochen sich unter meinem Fenster vorbeiwälzen kann.
merksam, daß gestern wied
zu würgen? Liegt in Wien das Problem tiefer, schwieriger als
Merkwürdig! Wenn man unsere Zeitungen und Bücher liest,
Taufe gehoben worden ist
anderwärts, wo der Antisemitismus nur latent ist und nicht
sollte man glauben, hier hätten die Menschen nichts anderes
Sie heißt Johann der
die städtischen Vertretungskörper beherrscht? Ich glaube auch
zu tun als düstere Pläne zu brauen zur Verkürzung und
und Karl Lindau mit 2
das nicht. Der Wiener Antisemitismus ist sogar weniger gif¬
Vernichtung des nationalen Gegners und ihre Sommertage
behandelt den Fall, daß ein
tig geworden, seitdem er an der Krippe sitzt. Ich kenne auch
zumal gehörten den Ausflügen mit Knütteln und Revolvern
des amerikanischen Erbon
Juden genug, Kaufleute, Arbeiter, Ingenicure, Aerzte,
ins Feindesland. Seit ich wieder hier bin in Oesterreich,
diener mimen muß um
Schriftsteller, die sich ob ihres Judentums oder um ihrer Ab¬
hatte ich fast keine ruhige Stunde . .. Bergreichenstein, Zet¬
lernen, wobei er selbstvers
stammung willen kein graues Haar wachsen lassen und resolut
tau, Laibach, Prag, Budapest Bosnien — lauter Namen, die
ergattert, Kritik und Proc
ihrem Metier leben, — das beste Mittel, unlösbare Fragen
mich bis in die nächtlichen Träume verfolgen ... Sind wir
Operetten lehne ich grundsc
Politiker nicht von bösen Geistern gehetzte Parren? Wer von
liegen zu lassen, bis sie von selbst aufhören, Fragen zu sein.
sagen kann, wann das lieb
Was ist's denn, was Schnitzler dennoch zwingt, die Frage
all den Hunderttausenden, die sich heute aus dem inneren
Stumpfsinn satt haben wir
Wien hinaus in den breiten Wald- und Wiesengürtel ergie¬
immer von neuem zu wälzen? Wienertum, Beschaulichkeit,
Berlin „führend“. War's
Stimmungsjägerei. Dasselbe, was ihn an den ewigen ero¬
ßen, denkt an Bergreichenstein, Zettan, Laibach, Bosnien?
dingen stockkonservativ. Es
tischen Problemen festhält und nicht darüber hinauskommen
„Lassen Sie's gut sein, lieber Freund,“ sagte mir ein alter
es will nur überprüfen, wa
läßi, daß „Jungfrauen und Junggesellen im Frühjahr sich gar
Kampfgenosse, den ich vor kurzem auf diesen Widerspruch zwi¬
ist.
Es braucht lange, um
schen dem wahren Leben der Bevölkerung und unserem auf¬
geberdig stellen“. Was soll das erotische Geraunze? Sein
hält dann aber auch warm
geregten Treiben aufmerksam gemacht habe, „das Volk merkt
empfindsames Volk, das die Liebe weder herzhaft vulgär als
far
fehlt an Männern, die etw
noch nichts davon, aber in dreißig Jahren ist Wien eine
heitres Sinnenspiel, noch bürgerlich ernsthaft als Trieb der
etwas erlauben dürfen. 9
tschechische Stadt.“ Hat er recht? Wird diese alte deutsche
Familiengründung auffassen kann, ist die Farbe nicht wert,
im Schmollwinkel, Weingar
Kulturstadt, nach meinem Gefühl die einzige, wirkliche Kul¬
mit der es geschildert wird. Schon in seiner „Liebelei“ hat
Schlenther ist geschmeidige
turstadt, die wir haben, je ihren deutschen Charatier verlie¬
mich die Zärtlichkeit gestört, mit der er den gutgewaschenen
und hat soffenbar längst je
ren? Wahr ist, daß ich nie soviel slawische Laute gehört habe
Wiener Hausherrnsohn wie ein Vijon der Schöpfung malt;
wie in diesen Tagen. Wird Wien darum tschechisch werden?
Nagel gehängt. Es ist vie
in dem weit bedeutenderen „Weg ins Freie“ geht mir's nicht
Ich glaube umgekehrt. In der ersten Generation sind die
besser. Sein Georg v. Wergenthin ist ein Wicht, der ein I seine besten Theater die Ho
Spoboda, Navratil und Halaudek noch echte Bömmen, die in
braves Mädel wie das Annerl Rosner nicht wert ist, und es
Brahm und Reinhardt fa
gruße Wienestadt als Briefträger, Schlosser, Amtsdiener! ist für mich fast peinigend, dem Wechsel der Gefühle und Ge= Kgl. Schauspielhaus ihnen