I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 172

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Der
Frei
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genossen nicht ausschließt, schildert
der Arbeit zum Roman=Kunstwerk
Schnitzler die Unterschiedlichkeiten
hält ihn das Zuständliche, Still¬
und Kämpfe im Innern dieser Ge¬
ständliche liebend so fest, daß die
sellschaft und ihr Verhalten zu der
Schilderungen, Stimmungen und
umgebenden, großenteils antisemi¬
höchst ausführlichen Reden den Ent¬
tischen Bevölkerung. Namentlich
wicklungsgehalt zu sehr beengen,
zeigt er den Gegensatz zwischen dem
als daß er wirkungskräftig bleiben
könnte.
patriarchalischen älteren und dem
nervösen modernen Judentum, das
Ganz offenkundig kennzeichnet
teils trotzig beim Hergebrachten
Seeliger seinen „Schrecken der
verharren, teils leichtherzig zum
Völker“ als ein Buch, das nicht
Christentum übergehen, teils wieder
in erster und auch nicht in zweiter
mit dem Zionismus Ernst machen
oder dritter Linie aufs Einzelseelische
will.
oder überhaupt aufs Seelische aus¬
Als Helden der Erzählung wählte
geht: er nennt es „Weltroman“
er einen musiktreibenden Wiener
und widmet es mit einem Pathos,
Aristokraten, der mit den wohl¬
das im Innern des Bandes glück¬
habenden und kunstliebenden jüdi¬
licherweise nicht fortgesetzt wird,
schen Kreisen gern in Fühlung steht.
„den Machthabern der Erdkruste“.
Was von ihm berichtet wird, ist
Doch ist er ein Mann von lite¬
trotz etlichen Rück= und Rund¬
rarischem Gewissen und sucht, etwa
blicken keine Entwicklungsgeschichte,
in vierter Linie, die Charakteristik
sondern bloß ein Stück aus einer
so verhältnismäßig energisch und
solchen, im Grund eine Novelle,
unkonventionell durchzuführen, wie
eine Liebschaft behandelnd. Hierin,
die vorgehende Fürsorge für die
gleichwie in den übrigen Teilen und
Tendenz, fürs Technische und Po¬
Teilchen vom „Wege ins Freie“
litische, für die Kulturschilderung,
finden wir die zarte Schwermut und
kurz: fürs Zeitliche seines Romans
die feinen Charakterbeobachtungen¬
ihm erlauben.
wieder, die den eignen müden Zau¬
Ein Deutscher, ein Genie an
ber an Arthur Schnitzlers Dich¬
naturwissenschaftlich=technischen Ga¬
tungen weben.
ben und an kühler Willenskraft,
Als Ganzes bekundet die Arbeit
unternimmt es (vom schönen Ma¬
wiederum (sie ist wohl sein erster
deira aus), der Welt den (mili¬
Roman), daß diesem Meister des
tärischen) Frieden zu geben. Es
Einakters und der keckegraziösen
gelingt ihm, Wasserstoff in feste
Novelle die stilreine Besältigung
Kristalle von winzigem Umfang und
großer Kunstformen nicht gegeben
ungeheurer Sprengkraft zu verwan¬
ist. Eben seine skeptisch=weltkind¬
deln und Luftschiffe zu erbauen, die
liche, beschaulich=aphoristische, seine
mit Hilfe der Atherelektrizität einen
lyrische (und ein wenig wienerisch¬
schier unbegrenzten „Aktionsradius“
feuilletonistische) Anlage, der er
erhalten, die sich ferner der bestver¬
seine Vorzüge verdankt, hemmt ihm
vollkommneten Lenkbarkeit erfreuen
ein weiteres Umfassen. Das rea¬
und die durch himmelblauen Anstrich
listische, mehr oder minder genre¬
so gut wie unsichtbar gemacht wer¬
hafte Schauspiel bewältigt er noch,
den. Mit außerordentlicher Ge¬
an der Tragödie scheitert er — ge¬
nanigkeit und einer Fülle von guten
rechter gesagt: scheitert auch er;
Einfällen wird so begründet und
denn wer von unsrer Zeit Genossen
darnach ausgeführt, wie dieser
scheitert nicht an ihr? — und bei Friedensgewaltmensch zunächst eine
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Kuntwart Kl. 1.