I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 192

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ins Freie
23. Der Neg.
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Berliner und in wie manchen Dingen sie sich doch gleicht,
In den „Kindern einer Familie" von
vorausgesetzt, daß Arthur Schnitzler, woran wir aber nicht
Eva Gräsin Baudissin, wird die Verschieden¬
zweifeln, seine Stammesgenossen richtig geschildert hat. Der
artigkeit der Anlagen und der Lebensschicksale zweier Fa¬
Inhalt ist, wie Georg von Wergenthin von seiner Gelieb¬
milien gezeigt, wobei auch der Gegensatz der älteren
ten aus kleinbürgerlichen Kreisen und von seiner eigenen
Generation zu der jüngeren eine Rolle spielt. Die Heldin
schwankenden Natur den Weg ins Freie und Selbständige
ist Elfriede, die sich zur Sängerin berufen glaubt und
findet. Das ist sehr eingehend und umstänblich mit wenig
sowohl Talent wie Schönheit dazu mitbringt. Männer
technischem Geschick erzählt, ohne daß wir sonderlich da¬
gar verschiedener Art werben um sie; am meisten Eindruck
durch erregt wurden. Im Grunde ist es uns herzlich gleich¬
macht auf sie ihr Musiklehrer, dessen Ehe, vorher schon
gültig, wie sich das Schicksal dieses Helden entwickelt, ob
unglücklich, dabei in die Brüche geht. Der sie aber am
aus ihm etwas wird oder nicht. Mehr vielleicht fesselt die
innigsten liebi, ist ihr Vetier Niels, ein Lehrer, der nicht
Amwelt, diese Wiener Juden in ihrer Verbindung mit
recht weiß, wie sein Leben gestalten, der von einer
dem Adel, ihre sozialen, literarischen und musikalischen Be¬
Neigung zur anderen schwankt, insbesondere von der
strebungen. Natürlich sind diese Leute alle erhaben über
Reformschule, an der er lehrt, zur alten Schule — ein
jede Engherzigkeit auf sittlichem Gebiet, und stehen jenseits
Gegensatz, der einen im Verhältnis zum Ganzen fast zu
aller Noral, und doch: alle sind eng und unfrei und laufen
breiten Raum einnimmt. Diese Jugendliebe sitzt bei El¬
wie an Ketten, und der Leser hat ein Gefühl der Befreiung,
friede doch tiefer, als sie sich selbst eingesteht, uni es ist
wenn er sie glücklich auf Seite 491 alle miteinander los
nicht ohne Reiz, wie sie schließlich durch alle Irrungen
hat. Und merkwürdig ist, wie wenig einem von all diesen
hindurch sich ihrer Liebe zu Niels gewiß wird. Ganz
Geschichten und Personen scho nach gang kurzer Zeit bleibt:
anders geartet als sie ist ihre Schwester, und wieder ganz
alles ist wie erstickt unter einer schweren Masse, und so ge¬
anders Niels Schwester, deren Schicksal mit dem der beiden
wichtig sich die Geschichte gibt, so flüchtig geht sie durch
Hauptpersonen eng verbunden ist. Es ist die kleine Welt
uns hin. Das alles wird freilich nicht hindern, daß Arthur
der Familie, und zwar einer eigenartigen Familie, in die
Schnitzlers Roman von einer gewissen Art von Kritik als
wir hier geführt werden, und es wird uns in dieser Enge
eine der bedeutsamsten Erscheinungen dieses Jahres ge¬
selbst ein bißchen eng; aber die Verfasserin versteht, uns
priesen wird.
in ihr heimisch zu machen, und nicht ohne Interesse folgen
wir den Verwickelungen und Entwickelungen bis zum glück¬
Ebenfalls in jüdische Kreife führt uns Grorg
Herrmann in „Henrleite Jacoby“, dem zwei¬
lichen Ende.
ten Teil von „Jettchen Geberts Geschichte“. Nur sind es
„Die Sünde aber der Eltern . . . .“ heißt
diesmal Berliner Juden und nicht die der Gegenwart,
mit einem heutzutage beliebten halben Satz der Titel des
sondern die im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts.
Tendenzromans von Henning von Sydow. Die
Und dieses, Bild der damaligen Berliner Judenschaft ist
zwei hier gerügten Elternsünden sind freilich ett#as un¬
offenbar benso sorgfältig jiudiert und innerlich geschaut,
gleich: die eine ist die, daß die Eltern ihre Töchter über
soie das Wiener Judentum der Gegenwart, das uns Arthur
das Geschlechtsleben und das Wesen der Ehe im unklaren
Schnitzler zeichnet. Nur daß Schnitzler über jedes Vor¬
lassen, die andere, daß sie ihren Töchtern ungtliebte
urteil für das Judentum erhaben ist und es lediglich als
Männer aufzwingen, ja sogar Männer, vor denen den
Studienobjekt benutzt, während Hermann mit wärmisten
Frauen graut. Denn in beiden Fällen gestaltet sich das
Herzensanteil für seine jüdischen Gestalten schildert. Das
eheliche Zusammenleben, insbesondere der ersten Zeit, zur
verleitet ihn, eine Menge von Einzelheiten und Kleinig¬
Qual, und einen brutal sinnlichen, ungeliebten Mann
keiten in den Roman aufzunehmen, die für die Judenschaft
heiraten zu müssen, ist nicht besser als Vergewaltigung.
im allgemeinen und für die jener Zeit charakteristisch,
Das wird an dem Schicksal einer feiner veranlagten
andern Leuten aber gleichgültig sind. Uebrigens dies nicht
Bauerntochter, Annemarie Wenzel, gezeigt, die vollkommen
zum Vorteil der Hauptpersonen, Jettchen Geberts, nun ver¬
unwissend an einen Berliner Vetter, den Restaurateur
ehelichten Jacoby, und ihres Onkels Jason, die man sich
Berndt verheiratet wird. Natürlich erwacht auch in ihr
aus dem Rankenwerk erst herausschälen und loslösen muß,
eines Tages die Liebe, und nun auch die sinnliche; aber
ohne doch sonderliches Interesse für sie zu gewinnen, so
der Maler, den sie liebt und der sie kiebt, ist keiner jener
viele Mühe sich der Verfasser gibt. Das kommt natürlich
lüsternen Männer die nur das Geschlechtswesen im Weibe
nicht daher, weil Jettchen und Jason Juden sind, denn ich
suchen, und er bleibt standhaft, was um so mehr ins Ge¬
so
kann mir die Liebesgeschichte zweier Juden genau
wicht fällt, als er nachher die anders erzogene Tochter
fesselnd denken, wie die von Deutschen, Regern oder Chine¬
dieser Frau lieben lernt und erkennt, daß die Liebe zur
sen; der unglückselige Liebhaber Jettchens ist überdies ein
Mutter nicht die wahre gewesen ist. So ist ihm der Weg
Deutscher. Das liegt an der ganzen Art der Darstellung
zur Heirat mit der Tochter nicht verschlossen. Das ist in
Hermanns. Jüdische Kreise haben dem ersten Teil dieser
kurzen Zügen der Inhalt dieses Romans, der sein Pro¬
Geschichte außerordentlich lebhafte Teilnahme entgegen¬
blem ernst und mit schriftstellerischem Geschick anfaßt und
gebracht; sie wird dort auch diesem zweiten Teil nicht
es nach den verschiedensten Seiten nicht durch langatmige
fehlen. Ob deutsche Leser sich sonderlich für das damalige
Erörterungen, sondern durch lebendig gezeichnete Bilder
jüdische Familienleben interessieren, mag billig bezweifelt
aus dem physischen und seelischen Liebesleben des Weibes
werden. Doch wird sie das Berliner Milien um die Zeit
zu lösen sucht. Gelegentliche Ausfälle gegen die Ehe fehlen
der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV., in das der
nicht, allerdings nur in dem Sinne: keine Ehe ohne Liebe,
Verfasser uns aus den Fenstern der jüdischen Häuser hinein¬
besser Liebe ohne Ehe. Dabei gerät Sydow allerdings etwas
schauen läßt, und die Beziehungen der Juden zu den nicht¬
tief in die Heimlichkeiten des Ehebettes hinein; aber man
jüdischen Kreisen immerhin fesseln.
kann ihm zugeben, daß er es ungeschminkt schildern mußte,
wenn er seine Tendenz verfechten wollte. Die Frage wäre
Die Geschichte eines schwäbischen Pfarrers ist „Theo¬
höchstens die, ob die Erkenntnis eine reine, leiblich und
bald Hüglin“; sie kommt von einem badischen Pfarrer
seelisch unbefleckte Jungfrau dürfe man nicht mit dem
Otto Frommel in Heidelberg. Er ist in schwäbi¬
nächsten besten brutalen Mann verheiraten, so wenig ver¬
schen Pfarrersverhältnissen recht gut zu Haus und schildert
breitet ist, daß man einen ganzen Roman daran rücken
sie offenbar aus eigener Kenntnis, nur hier und da ein
muß, um diese Sünde zu erweisen. Im Gegensatz zu der
wenig respektlos und ein bißchen übertreibend und nicht be¬
Unreinheit solcher Ehen steht bei Sydow ein starker Kultus
sonders liebenswürdig. Bloß das eine hätte er seinen
des Nackten und seiner Reinheit, wobei auch die Frage
württembergischen Kollegen nicht nachsagen sollen, sie haben
des Modellstehens seitens der Geliebten und der Gattin
es seinem Helden, Theobald Hüglin, geradezu übel ge¬
erörtert und an Beispielen gezeigt wird.
nommen, daß er seine Lebensgefährtin aus dem „Ausland“
und dazu noch aus dem Badischen, geholt habe. So steht
Ein Roman aus Wiener jüdischen und aristokratischen
man im biederen Sch##abenländle bei aller Selbstbewunde¬
Kreisen ist Arthur Schnitzlers „Der Weg ins,
rung doch nicht zum badischen „Musterländle“ und seinen
Freie“. Wen es interessiert, mag hier seine Studien
machen, wie anders die Wiener Judenschaft ist als die 1 „Versuchspreußen“! Und was seinem Helden passiert, das