I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 194

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23. Der Neg ins Freie

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Der Weg ins Freic. Romgn vor
Arthur Schnitzler. S. Fischer, Verlag. Berliy,
491 Seiten. Geheftet 5 Mk.
Der erste große Roman Artgur Schnitzlers ist
ein zeitgeschichtlicher Roman ats dem heutigen
Wien. Reich bewegte Bilder aus den verschieden¬
sten Gesellschaftskreisen werdeng#r uns entrollt.
Eine Fülle von Gestalten lernen wir kennen, die
in der besonderen Atmosphäre ihrer Siadt, unter
den komplizierten Verhältnissen ihres Landes, zu
den mannigfachsten Beziehungen miteinander ver
nüpft sind. Allerlei Probleme der Zeit werden
berührt, insbesondere geht der Verfasser den
Schicksalen seiner Stammesgenossen, der modernem
Juden, innerhalb der eigentümlichen Gruppierung
der Wiener Gesellschaft nach. Der Inhalt des
Romans ist kurz folgender: Ein junger Wiene
Baron von künstlerischen Anlagen, seines Zeichens
Musiker und Komponist, bewegt sich mit Vorliebs
in den kultivierten Kreisen jüdischer Familien
in deren Bereich er mehr und stärkere künstlerisch
Anregungen zu finden meint, als in den vor
wiegend sportfrohen Schichten des Adels.
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Baron findet in einem jener Bürgerhäuser eig
seltsam verschlossenes Mädchen, das nach dem
Verlust seiner Stimme die hohen Hoffnungen einer
großen Künstlerkarriere mit den bescheideneren
Ausblicken einer Gesanglehrerin hatte ver¬
tauschen müssen. Die beiden finden sich zu einem
Liebesbunde, allein der Baron scheut vor jeder
Fessel zurück. Er läßt seine Geliebte im Stich,
er benutzt, die offen stehende Tür, um ins Freie zu
gelangen. Er nimmt eine Stelle als Kapellmeister
an einem Hoftheater draußen im Reiche an und
entzieht sich der unmittelbaren Nähe der Geliebten,
von der man beim Ausklang des Buches mit
Gewißheit ahnt, daß sie diesen Mann endgültig
verloren hat. Das Ganze ist breit erzählt und
stark von erotischen Motiven durchzogen.
Von
dem Vorrecht des Romandichters, Betrachtungen
nachzugehen und seine Helden über alle möglichen
Fragen der Welt disputieren zu lassen, hat¬
Schnitzler allzu reichlich Gebrauch gemacht. Sein
Roman enthält eigentlich nur den Stoff einer
Novelle. Er hat ihn nur dadurch zu einem Zeit¬
roman gemacht, daß er uns für das Schicksal des
modernen österreichischen Juden zu interessieren
suchte. Die Worte des Gutzkowschen Akosta: „So
bleib: Ihr dennoch nur ein schreckhaft Wild aus
einem fernen Walde, das scheu bei jedem Christen¬
gruße stutzt“ sind zum Leitmotiv für dieses Werk
geworden, in dem die mangelnde Bodenständigkeit,
das stete Gefühl der Heimatlosigkeit des Wiener
Juden Worte findet. Von den Reichsdeutschen
hat der früh verstorbene Ludwig Jacobowsky diesen
Ton in seinem „Werter, der Jude“ angestimmt.
Alle Spiekarten von Juden führt Schnitzler vor:
den heimwehkranken Zionisten, der das sehnende
Auge nach Osten richtet, den ganz Emanzipierten,
der den makkabäisch Gearteten, den Heroen, dessen
fein empfindliches Ehrgefühl allerorten die kon¬
fessionelle Kränkung wittert und den Finger nicht
von der Pistole läßt, um in jedem Moment Rechen¬
schaft zu fordern, den in seinem Rechtsgefühl
Verletzten, der voll Ingrimm ist über die Zurück¬
setzung der Juden im Staate. Schnitzler erschöpft
diese Frage in keiner Weise Er zeichnet nur
Strömungen in jener gleichgültigen Art, wie sie
dem Wiener eigen ist. Hans Land sagt mit
Recht: Der Verfasser hätte sicherlich eine ungleich
elementarere Wirkung erzielt, hätte er seinem
Liebespaare einen Kraftmenschen entgegengestellt,
der mit seinem Wollen und Können einen Weg
in eine bessere und lichtere Zukunft speziell des
modernen Inden hätte zeigen können. Und das
wäre ohne Verletzung selbst der empfindlichsten
Aesthetennerven sehr wohl möglich gewesen
Telephon 12.801.
Dt.

„OBSERVE
I. österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
hagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork,
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
— „Snellengagabe Sine Genfhr).
20.
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Ausschnitt aus:
·6 12 1908
vom:
[Die Bücher der Saison.] In dem Goethe¬
Kalender auf das Jahr 1909, der sich es zur Aufgabe stellt,
aus den Gesprächen Goethes und aus den dabei mitüber¬
kommenen Schilderungen seines Wesens eine Art Umrißbild
von Goethe in der Unterhaltung zu gestalten, sind wir auf
ein nachdenkliches, vorwurfsvolles Wort gestoßen, das Goethe
1806 zu Riemer gesrrochen hat: „Bücher werden jetzt nicht
geschrieben, um gelesen zu werden, um sich zu unterrichten
und zu belehren, sondern um rezensiert zu werden, damit
man wieder darüber reden und meinen kann, so ins Un¬
endliche fort. Seitdem man die Bücher rezensiert liest sie kein
Mensch außer dem Rezensenten. Und der auch so, so. Es hat
aber jetzt auch selten jemand etwas Neues, Eigenes, Selbst¬
gedachtes, Unterrichtetes, mit Liebe und Fleiß Ausgearbeitetes
zu sagen und mitzuteilen, und so ist eines des anderen wert.“
Das war, wie gesagt, im Jahre 1806. Und seitdem hat sich
die Tintennot — nicht etwa, daß der Tintenzufluß ein zu
geringer wäre — ins Unermeßliche gesteigert. Goethe hat, wie
aus dem Zusammenhange hervorgeht, in jenem Gespräche
mit Riemer die schöne Literatur im Auge gehabt. Die belle¬
tristische Ueberproduktion, die seither um so Vieles zugenommen
hat, straft längst den Altmeister Lügen. Denn genau ge¬
nommen, wird heutzutage ebenso wenig geschrieben um
ge¬
lesen, als um rezensiert zu werden. Die Druckerschwärze
ist
mehr minder Selbstzweck geworden. Wenn man in dem Wust
der Neuerscheinungen blättert, die abseits gelegenen Themen,
die weit herbeigeholten seelischen Konflikte, die verschrobenen
Büchertitel, die mitunter hirnrissige äußere Ausstattung
manchen Novellenbandes ins Auge faßt, überzeugt man sich
allmählich, daß oiese unbezwingliche Sucht, irgend ein an¬
gepaßtes Gefühlchen, irgend einen aufgelefenen Gedanken¬
plitter in die immerhin kostspielige Kassette eines Buches zu
legen, eine Art moderne gesellschaftliche Monomanie darstellt.
Während der Literatenhimmel, der sich in den Reservoirs der
Unsterblichkeit, im Kürschner und anderen Lexikas wide¬
piegelt, so von Sternen übersät ist, daß kein Palisa sie
zählen könnte, konzentrieren sich die Leser immer mehr auf
bestimmte Autoren und bestimmte Bücher. Das Mißtrauen
gegen neue Namen — Ausnahmen bestätigen die Regel —
wird immer stärker, die Zahl derer, die in der Leihbibliothek
und beim Buchhändler auf Entdeckungen ausgehen, immer
geringer. Es gibt eine Anzahl stark gelesener, eine Legion
ungelesener Bücher, die Mittellage fehlt. Das ist heuer das
Ergebnis der kleinen literarischen Enquete, die wir all¬
jährlich um diese Zeit zu veranstalten pflegen. Letzthin ist
in diesen Blättern die Zuschrift eines deutschen Weinkenners
veröffentlicht worden, der die erfreuliche Mitteilung machte,
daß wir ein gutes Weinjahr hätten, und daß die deutschen
Winzer beschlossen hatten, den Heurigen diesmal „Zeppelin
zu nennen: „Höher geht's nicht.“ Mit den gebotenen Ein¬
schränkungen gilt dies auch vom Literaturheurigen. Es war
ein gutes literarisches Jahr und wir Deutschösterreicher dürfen
uns dessen freuen, daß, soferne von einem Buch der Saison
1908 gesprochen werden kann, die Wahl beinahe aus¬
chließlich zwischen Büchern deutschösterreichischer Autoren liegt,
während voriges Jahr, wie erinnerlich sein wird, ein Ber¬
liner Roman, „Jetichen Gebert“ im Vordergrunde des
Publikumsinteresses stand. Gäbe es einen Volks=Schiller¬
Preis für Erzeugnisse der Romanliteratur, so kämen heuer,
was den Publikumserfolg anlangt, in erster Linie Rudolf
Hans Bartsch und Arthur Schnitzler in Betracht.
Einer unserer Gewährsmänner, der Chef der Hofbuch¬
handlung Perles, Herr Friedrich Schiller, erzählt uns, daß
„Der Wegins Freie" bereits die 20. Auflage erreicht
hat und der Besitzer unseres größten Literaturinstituts, Herr
Ludwig Last, teilt uns mit, daß er die „Zwölf aus der
Steiermark“ und die „Heindlkinder“ in mehreren
hundert Eremplaren aufstellen mußte, ohne der stürmischen