23. Der Neg ins Freie
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ein gutes niterärisches Jahr und wir Dentschösterreiches vorsen
uns dessen freuen, daß, soferne von einem Buch der Saison
1908 gesprochen werden kann, die Wahl beinahe aus¬
schließlich zwischen Büchern deutschösterreichischer Autoren liegt,
während voriges Jahr, wie erinnerlich sein wird, ein Ber¬
liner Roman, „Jetichen Gebert", im Vordergrunde des
Publikumsinteresses stand. Gäbe es einen Volks=Schiller¬
Preis für Erzeugnisse der Romanliteratur, so kämen heuer,
was den Puhlikumserfolg anlangt, in erster Linie Rudolf
Hans Bartsch und Arthur Schnitzler in Betracht.
Einer unserer Gewährsmänner, der Chef der Hofbuch¬
handlung Perles, Herr Friedrich Schiller, erzählt uns, daß
„Der Wegins Freie" bereits die 20. Auflage erreicht
hat und der Besitzer unseres größten Literaturinstituts, Herr
Ludwig Last, teilt uns mit, daß er die „Zwölf aus der
Steiermark“ und die „Heindlkinder“ in mehreren
hundert Exemplaren aufstellen mußte, ohne der stürmischen
Nachfrage genügen zu können. Dann kämen von Büchern
der Saison noch zwei Werke in Betracht, auf die wir mit
begreiflicher Genugtuung hinweisen können, da unser Blatt
ihre Bekanntschaft zuerst dem Lesepublikum vermittelt hat:
Hermann Bahrs „Die Rahl“ die uns bereits leise
Ergrauenden die großen Erlebnisse des Uebergangs zwischen
Knaben= und Jünglingszeit, die ersten Abende im alten
Burgtheater in süß=traurige Erinnerung ruft, wie wir uns
anstellten“ und wie wir beim Bühnentürl mit ach so reinen
Empfindungen auf die Wolter oder auf die Wessely war¬
teten. Dann wied uns übereinstimmend Ginzkeys
„Jakobus und die Frauen“ als ein Buch der
Saison bezeichnet. Jakob Wassermann mit seinem
Kaspar Hauser" Emil Ertls Achtundvierziger=Roman
„Freiheit, die ich meine“ der mit wundersamer Ge¬
taltungskraft die Jünglingsstimmung des Völkerfrühlings
estgehalten hat, haben gleichfalls das Publikum erobert.
Otto Ernst hat sich mit „Semper der Jüngling“,
er Fortsetzung von „Asmus Sempers Jugendland“ in der
Gunst des Publikums behauptet. Endlich dürfen österreichische
Autorinnen nicht übergangen werden, die sich mit viel Glück
in die vordere Reihe geschoben haben. Dazu zählen Gräfin
Christine Thun=Salm und Alice Gurschner (Paul
Althof) mit ihrem neuen Novellenband „Die wunderbare
Brücke“. Erfreulich ist es, wie heuer wieder der literarische
Geschmack des Publikums mit der Wertung berufener Kritiker
übereinzustimmen scheint. Die Jahre, in denen einmal Lien¬
tenant Bilses „Aus einer kleinen Garnison“ und ein
anderesmal Sherlock Holmes die ausgesprochenen Bücher der
Saison waren, scheinen weit hinter uns zu liegen. Die
heurige Haison ließ sich durch Aktualitäten nur in geringem
Grade beeinflussen, wenn auch, wie uns aus Buchhändler¬
kreisen mitgeteilt wird Graf Zeppelins Spuren sich darin
zeigten, daß der Büchermarkt mit mehr oder weniger gründ¬
lichen Belehrungen über Luftschiffahrt, mehr oder minder
inhaltsreichen Beschreibungen der Fahrten und mit Biographien
Zeppelins, wohl auch mit phantasievollen Zukunftsromanen
überschwemmt war.
St—g.
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De A
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Ebensöwenig verdient diese Bezeichnung die erste große
rbsaschopfung des Wieners Arthur Shnitzder, die
weder stofflich noch gedanklich jene Breite und Weite des
Horizonts darbietet, die man von einem Romähnkn strengem
Sinne füglich verlangen darf. Aber es ist Pier doch der
Versuch gemacht, die Strahlungen einer Kultur, wenn
auch nicht in einem Brennpunkte zu sammeln, so doch in
einigen schimmernden Fazetten spielen zu lassen. Zufälli¬
gerweise steht auch im Mittelpunkte dieses Buches dasselbe
Motiv wie im Tränenhaus: die unverbeiratete Frau, die
sich vor der Welt zurückzieht, um Mutter zu werden. Nur
ist bei Schnitzler überhaupt nichts von Kampf, Konflikt,
Problem oder Tendenz zu spüren. Seine Anna Rosner ist
nicht in Unfrieden und Enttäuschung von dem Geliebten
geschieden, sondern erfreut sich im Gegenteil der sorg¬
ältigsten Teilnahme seinerseits. Das Endresultat ist aller¬
dings in beiden Büchern dasselbe: die Bande lösen sich leise
und wehmütig und das stolze Zartgefühl der Frau die
gab ohne zu fragen, und nun sieht, daß sie mehr gab als
ie empfing, öffnet selber dem Manne — den Weg ins
Freie. Es ist aber doch ein wesentlicher Unterschied vor¬
hander Gabriele Reuters Cornelie Reimann trennt sich
von dem Geliebten, weil sie nach langen Kämpfen zur Ein¬
sicht gekommen, daß die Kluft, die Temperament und In¬
stinkte zwischen beiden gegraben, zu breit ist, in überbrückt
zu werden. Für sie ist die Trennung in höherem Sinne
ein Sieg: sie beginnt innerlich und vor der Welt ein neues
Leben als Mutter eines Kindes, dessen Vater diese Welt
nicht kennt. Anna Rosner aber gibt ihren Freiherrn
Georg von Wergenthin frei, nur weil sie sieht, daß er ihre
überdrüssig geworden, und weil sie nicht mehr
verspürt, seine erlöschende Liebe zu neuer Fl#
fächen. Sie hat geliebt, ist Mutter geworden
Sh
Kind
ist gestorben. Und sie kehrt wieder in die bürgekliche Ge¬
eschaft zurück, als wäre nichts passiert, als dasselbe Fräu¬
lein Rosner, das sie früher war. Und da ihre nächsten Ver¬
wandten die Angelegenheit mit derselben ruhigen Selbst¬
verständlichkeit behandeln und dem sorglos liebenswürdigen
Freiherrnenüber dieselbe Kulanz beweisen wie sie selbst,
o dürfte sie kaum einen nennenswerten Schaden davon¬
tragen, selbst wenn sie dieselbe Geschichte noch einmal erleben
sollte. Für diesen einfachen Novellenstoff hat ein Drittel
des an 500 Seiten zählenden Buches genugt. Die übrigen
zwei Drittel sind mit endlosen Betrachtungen und Unter¬
haltungen über Oesterreich und vor allem über das Juden¬
tum angefüllt. Treffende, feine und kluge Unterhaltungen,
von scharfer Beobachtung und tiefer Kenntnis eingegeben
uind nicht ohne eine persönliche Note schmerzvoller Bitter¬
keit, aber was hat das alles mit der Liebesgeschichte des
nichts weniger als jüdischen Paares Georg — Anna zu
tun? Wir lernen eine ganze Reihe recht interessanter
Judentypen kennen: Juden, die sich schämen Juden zu
sem; solche, die im Gegenteil darauf stolz sind und nur
Angst haben, man könnte glauben, sie schämten sich; Juden,
die überall Antisemiten wittern, und solche, die selber die
rabiatesten Antisemiten sind, kurz, die ganze Tragikomödie
des heutigen Judentums. Aber alle diese Gestalten stehen
in gar keiner notwendigen Verbindung mit dem Grund¬
motiv und den Hauptpersonen der Erzahlung. Sie dienen
nur dazu, dem Verfasser einen Anlaß zu geben, sein Herz
auszuschütten; und da geht ihm der Mund über. Muß das
Buch also in der Komposition als durchaus verfehlt bezeich¬
net werden so genügt es auch im übrigen künstlerisch nicht
den Anspruchen, die wir uns gewöhnt haben an Schnitzler
zu stellen. Die Eleganz und Grazie ist hier einer Müdig¬
keit und Monotonie gewichen die beinahe spleenartig wirkt.
Wir verlangen ja nicht gerade das obligate fesche Wiener¬
tum, aber wenn es in Wien mit der Lebens= und Arbeits¬
freude und mit der Kraft zu hassen und zu lieben
so sehr
Matthäi am letzten ist, wie es sich in diesem Buche spiegelt
dann kann man dem in tatenlosem, Dilettantentum
chier
verkommenden Georg v. Wergenthin von Herzen
Glück
wünschen, daß er mit Hilfe der rücksichtsvollen Anna Ro¬
ner den Weg ins Freie — nach Deutschland findet.
—
ein gutes niterärisches Jahr und wir Dentschösterreiches vorsen
uns dessen freuen, daß, soferne von einem Buch der Saison
1908 gesprochen werden kann, die Wahl beinahe aus¬
schließlich zwischen Büchern deutschösterreichischer Autoren liegt,
während voriges Jahr, wie erinnerlich sein wird, ein Ber¬
liner Roman, „Jetichen Gebert", im Vordergrunde des
Publikumsinteresses stand. Gäbe es einen Volks=Schiller¬
Preis für Erzeugnisse der Romanliteratur, so kämen heuer,
was den Puhlikumserfolg anlangt, in erster Linie Rudolf
Hans Bartsch und Arthur Schnitzler in Betracht.
Einer unserer Gewährsmänner, der Chef der Hofbuch¬
handlung Perles, Herr Friedrich Schiller, erzählt uns, daß
„Der Wegins Freie" bereits die 20. Auflage erreicht
hat und der Besitzer unseres größten Literaturinstituts, Herr
Ludwig Last, teilt uns mit, daß er die „Zwölf aus der
Steiermark“ und die „Heindlkinder“ in mehreren
hundert Exemplaren aufstellen mußte, ohne der stürmischen
Nachfrage genügen zu können. Dann kämen von Büchern
der Saison noch zwei Werke in Betracht, auf die wir mit
begreiflicher Genugtuung hinweisen können, da unser Blatt
ihre Bekanntschaft zuerst dem Lesepublikum vermittelt hat:
Hermann Bahrs „Die Rahl“ die uns bereits leise
Ergrauenden die großen Erlebnisse des Uebergangs zwischen
Knaben= und Jünglingszeit, die ersten Abende im alten
Burgtheater in süß=traurige Erinnerung ruft, wie wir uns
anstellten“ und wie wir beim Bühnentürl mit ach so reinen
Empfindungen auf die Wolter oder auf die Wessely war¬
teten. Dann wied uns übereinstimmend Ginzkeys
„Jakobus und die Frauen“ als ein Buch der
Saison bezeichnet. Jakob Wassermann mit seinem
Kaspar Hauser" Emil Ertls Achtundvierziger=Roman
„Freiheit, die ich meine“ der mit wundersamer Ge¬
taltungskraft die Jünglingsstimmung des Völkerfrühlings
estgehalten hat, haben gleichfalls das Publikum erobert.
Otto Ernst hat sich mit „Semper der Jüngling“,
er Fortsetzung von „Asmus Sempers Jugendland“ in der
Gunst des Publikums behauptet. Endlich dürfen österreichische
Autorinnen nicht übergangen werden, die sich mit viel Glück
in die vordere Reihe geschoben haben. Dazu zählen Gräfin
Christine Thun=Salm und Alice Gurschner (Paul
Althof) mit ihrem neuen Novellenband „Die wunderbare
Brücke“. Erfreulich ist es, wie heuer wieder der literarische
Geschmack des Publikums mit der Wertung berufener Kritiker
übereinzustimmen scheint. Die Jahre, in denen einmal Lien¬
tenant Bilses „Aus einer kleinen Garnison“ und ein
anderesmal Sherlock Holmes die ausgesprochenen Bücher der
Saison waren, scheinen weit hinter uns zu liegen. Die
heurige Haison ließ sich durch Aktualitäten nur in geringem
Grade beeinflussen, wenn auch, wie uns aus Buchhändler¬
kreisen mitgeteilt wird Graf Zeppelins Spuren sich darin
zeigten, daß der Büchermarkt mit mehr oder weniger gründ¬
lichen Belehrungen über Luftschiffahrt, mehr oder minder
inhaltsreichen Beschreibungen der Fahrten und mit Biographien
Zeppelins, wohl auch mit phantasievollen Zukunftsromanen
überschwemmt war.
St—g.
box 3/2
De A
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Ebensöwenig verdient diese Bezeichnung die erste große
rbsaschopfung des Wieners Arthur Shnitzder, die
weder stofflich noch gedanklich jene Breite und Weite des
Horizonts darbietet, die man von einem Romähnkn strengem
Sinne füglich verlangen darf. Aber es ist Pier doch der
Versuch gemacht, die Strahlungen einer Kultur, wenn
auch nicht in einem Brennpunkte zu sammeln, so doch in
einigen schimmernden Fazetten spielen zu lassen. Zufälli¬
gerweise steht auch im Mittelpunkte dieses Buches dasselbe
Motiv wie im Tränenhaus: die unverbeiratete Frau, die
sich vor der Welt zurückzieht, um Mutter zu werden. Nur
ist bei Schnitzler überhaupt nichts von Kampf, Konflikt,
Problem oder Tendenz zu spüren. Seine Anna Rosner ist
nicht in Unfrieden und Enttäuschung von dem Geliebten
geschieden, sondern erfreut sich im Gegenteil der sorg¬
ältigsten Teilnahme seinerseits. Das Endresultat ist aller¬
dings in beiden Büchern dasselbe: die Bande lösen sich leise
und wehmütig und das stolze Zartgefühl der Frau die
gab ohne zu fragen, und nun sieht, daß sie mehr gab als
ie empfing, öffnet selber dem Manne — den Weg ins
Freie. Es ist aber doch ein wesentlicher Unterschied vor¬
hander Gabriele Reuters Cornelie Reimann trennt sich
von dem Geliebten, weil sie nach langen Kämpfen zur Ein¬
sicht gekommen, daß die Kluft, die Temperament und In¬
stinkte zwischen beiden gegraben, zu breit ist, in überbrückt
zu werden. Für sie ist die Trennung in höherem Sinne
ein Sieg: sie beginnt innerlich und vor der Welt ein neues
Leben als Mutter eines Kindes, dessen Vater diese Welt
nicht kennt. Anna Rosner aber gibt ihren Freiherrn
Georg von Wergenthin frei, nur weil sie sieht, daß er ihre
überdrüssig geworden, und weil sie nicht mehr
verspürt, seine erlöschende Liebe zu neuer Fl#
fächen. Sie hat geliebt, ist Mutter geworden
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Kind
ist gestorben. Und sie kehrt wieder in die bürgekliche Ge¬
eschaft zurück, als wäre nichts passiert, als dasselbe Fräu¬
lein Rosner, das sie früher war. Und da ihre nächsten Ver¬
wandten die Angelegenheit mit derselben ruhigen Selbst¬
verständlichkeit behandeln und dem sorglos liebenswürdigen
Freiherrnenüber dieselbe Kulanz beweisen wie sie selbst,
o dürfte sie kaum einen nennenswerten Schaden davon¬
tragen, selbst wenn sie dieselbe Geschichte noch einmal erleben
sollte. Für diesen einfachen Novellenstoff hat ein Drittel
des an 500 Seiten zählenden Buches genugt. Die übrigen
zwei Drittel sind mit endlosen Betrachtungen und Unter¬
haltungen über Oesterreich und vor allem über das Juden¬
tum angefüllt. Treffende, feine und kluge Unterhaltungen,
von scharfer Beobachtung und tiefer Kenntnis eingegeben
uind nicht ohne eine persönliche Note schmerzvoller Bitter¬
keit, aber was hat das alles mit der Liebesgeschichte des
nichts weniger als jüdischen Paares Georg — Anna zu
tun? Wir lernen eine ganze Reihe recht interessanter
Judentypen kennen: Juden, die sich schämen Juden zu
sem; solche, die im Gegenteil darauf stolz sind und nur
Angst haben, man könnte glauben, sie schämten sich; Juden,
die überall Antisemiten wittern, und solche, die selber die
rabiatesten Antisemiten sind, kurz, die ganze Tragikomödie
des heutigen Judentums. Aber alle diese Gestalten stehen
in gar keiner notwendigen Verbindung mit dem Grund¬
motiv und den Hauptpersonen der Erzahlung. Sie dienen
nur dazu, dem Verfasser einen Anlaß zu geben, sein Herz
auszuschütten; und da geht ihm der Mund über. Muß das
Buch also in der Komposition als durchaus verfehlt bezeich¬
net werden so genügt es auch im übrigen künstlerisch nicht
den Anspruchen, die wir uns gewöhnt haben an Schnitzler
zu stellen. Die Eleganz und Grazie ist hier einer Müdig¬
keit und Monotonie gewichen die beinahe spleenartig wirkt.
Wir verlangen ja nicht gerade das obligate fesche Wiener¬
tum, aber wenn es in Wien mit der Lebens= und Arbeits¬
freude und mit der Kraft zu hassen und zu lieben
so sehr
Matthäi am letzten ist, wie es sich in diesem Buche spiegelt
dann kann man dem in tatenlosem, Dilettantentum
chier
verkommenden Georg v. Wergenthin von Herzen
Glück
wünschen, daß er mit Hilfe der rücksichtsvollen Anna Ro¬
ner den Weg ins Freie — nach Deutschland findet.