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23. Der Neg ins Frei
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Neue Romane und Novellen
Natürlich ist das Bewußtsein, das sich so äußert, nicht neu, neu aber,
daß es so ganz alles andre überwuchert. Menschen wie die Heldin des
Romans „Ein unmöglicher Mensch“ von der Gräfin Adeline Rantzau sind
heute Ausnahmen auf den Wegen unsrer Erzählung. Hardine von Recken¬
burg und Heinrich Lee, Johannes Unwirrsch und Anton Wohlfahrt, die Helden
von Willibald Alexis und noch die Dorfgänger Ludwig Anzengrubers standen
fest in ihrer Umgebung und verleugneten ihre Abstammung nicht; aber sie
handelten mit eigner Verantwortung. Fontane ist der erste, bei dem das
umschlägt, bei dem die Menschen wie von selbst in alles hineingeraten und
das von dem Dichter und den Gegenspielern als ganz natürlich empfunden
wird. Auch bei Wilhelm Raabe haben wir schon solche Entwicklungen, aber
nur neben dem andern, außerdem — und darum paßt der Vergleich mit
Fontane schon nicht recht — mit unentrinnbarer tragischer Gewalt, weil es
ich da um letzte Leistungen handelt. Aber es stehn doch den Gleitenden
immer Zurückhaltende, denen, die mit gefesselten Händen einherschreiten, mutige
Angreifer des Lebens gegenüber. Und: es geschehen wirklich Dinge, Taten
voller Kraft und Wildheit, voller Sonderlichkeit und Größe. Es ist be¬
zeichnend, daß solche gerade in Fontanes Meisterwerken fehlen: in ihnen
passiert eigentlich nichts, ein Blick, ein flüchtiges Begegnen, ein Ehebruch, der
nur ein leises Hinüberhuschen ins vorbestimmte Schicksal ist, oder gar, wie in
dem warmen Altersbuch „Stechlin“ nicht einmal das, sondern im Grunde
nur, was der alte Fabeldichter in die Worte faßte: er lebte, nahm ein Weib
und starb. Das soll den holden Frauengestalten Fontanes, den ich hier nur
als den feinsten Typus nehme, keinen Abtrag tun — ich brauche mich wohl
gegen den Vorwurf der Unterschätzung gerade dieses Dichters nicht erst zu
verwahren —, aber ich wollte nur einmal auf scharfe Formel bringen, worin
der Gegensatz der modernen Romanliteratur gegen die frühere besteht, und
worin er noch besteht, obwohl wir in den letzten zwanzig Jahren so viel von
den großen Realisten gelernt haben, als deren Mittelsmann zur Gegenwart
der alte Fontane erscheint. Was wir von all solchen Romanen behalten,
sind schließlich immer wieder Stimmungen, feine, starke, besondre, helle und
Züftre, aber immer wieder Farben statt handelnder Gestalten.
Daß in dem neuen Buch von Arthur Schnitzler „Der Weg ins Freie“
(Berlin, S. Fischer) andres nicht zu holen sein würde, war freilich bei der
Eigenart dieses Dichters um so mehr vorauszusehen, als er ein Wiener ist.
Noch niemals scheint der entnervende Sommerhauch von Grillparzers Vater¬
stadt so stark gewirkt zu haben wie heute. Wenn er sich bei Peter Altenberg,
der (ebenfalls bei S. Fischer) eine Auswahl aus seinen Büchern herausgegeben
hat, bis in Miniaturen verflüchtigt, die man gut tut, nicht allzu wichtig zu
nehmen, und die man dann nicht ohne Amüsement genießt, so überwuchert
diese weiche, entkräftende Stimmung bei Schnitzler den ganzen, von ihm groß
gedachten Bau seines Werkes. Schnitzler läßt den Träger der durchgehenden
Handlung, wenn man denn von Handlung sprechen will, einmal darüber
klagen, daß der Norddeuische mit dem Begriff Wien immer wieder eine Art
Phäakenbegriff verbinde. Ja, wer trägt denn daran mehr Schuld als
Schnitzler und alle, die um ihn und neben ihm stehn? Vor Kürnberger oder
Anzengruber würde uns ein solches Urteil wahrlich nicht einfallen. Aber
nnn wieder dieser „Weg ins Freie", der da einem jungen Edelmann und
Dilettanten gebahnt wird, und der im Grunde trotz aller schöntönenden Worte
nichts ist als der Weg von einem verlassenen süßen Mädel zu — ja, wozu?
23. Der Neg ins Frei
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Neue Romane und Novellen
Natürlich ist das Bewußtsein, das sich so äußert, nicht neu, neu aber,
daß es so ganz alles andre überwuchert. Menschen wie die Heldin des
Romans „Ein unmöglicher Mensch“ von der Gräfin Adeline Rantzau sind
heute Ausnahmen auf den Wegen unsrer Erzählung. Hardine von Recken¬
burg und Heinrich Lee, Johannes Unwirrsch und Anton Wohlfahrt, die Helden
von Willibald Alexis und noch die Dorfgänger Ludwig Anzengrubers standen
fest in ihrer Umgebung und verleugneten ihre Abstammung nicht; aber sie
handelten mit eigner Verantwortung. Fontane ist der erste, bei dem das
umschlägt, bei dem die Menschen wie von selbst in alles hineingeraten und
das von dem Dichter und den Gegenspielern als ganz natürlich empfunden
wird. Auch bei Wilhelm Raabe haben wir schon solche Entwicklungen, aber
nur neben dem andern, außerdem — und darum paßt der Vergleich mit
Fontane schon nicht recht — mit unentrinnbarer tragischer Gewalt, weil es
ich da um letzte Leistungen handelt. Aber es stehn doch den Gleitenden
immer Zurückhaltende, denen, die mit gefesselten Händen einherschreiten, mutige
Angreifer des Lebens gegenüber. Und: es geschehen wirklich Dinge, Taten
voller Kraft und Wildheit, voller Sonderlichkeit und Größe. Es ist be¬
zeichnend, daß solche gerade in Fontanes Meisterwerken fehlen: in ihnen
passiert eigentlich nichts, ein Blick, ein flüchtiges Begegnen, ein Ehebruch, der
nur ein leises Hinüberhuschen ins vorbestimmte Schicksal ist, oder gar, wie in
dem warmen Altersbuch „Stechlin“ nicht einmal das, sondern im Grunde
nur, was der alte Fabeldichter in die Worte faßte: er lebte, nahm ein Weib
und starb. Das soll den holden Frauengestalten Fontanes, den ich hier nur
als den feinsten Typus nehme, keinen Abtrag tun — ich brauche mich wohl
gegen den Vorwurf der Unterschätzung gerade dieses Dichters nicht erst zu
verwahren —, aber ich wollte nur einmal auf scharfe Formel bringen, worin
der Gegensatz der modernen Romanliteratur gegen die frühere besteht, und
worin er noch besteht, obwohl wir in den letzten zwanzig Jahren so viel von
den großen Realisten gelernt haben, als deren Mittelsmann zur Gegenwart
der alte Fontane erscheint. Was wir von all solchen Romanen behalten,
sind schließlich immer wieder Stimmungen, feine, starke, besondre, helle und
Züftre, aber immer wieder Farben statt handelnder Gestalten.
Daß in dem neuen Buch von Arthur Schnitzler „Der Weg ins Freie“
(Berlin, S. Fischer) andres nicht zu holen sein würde, war freilich bei der
Eigenart dieses Dichters um so mehr vorauszusehen, als er ein Wiener ist.
Noch niemals scheint der entnervende Sommerhauch von Grillparzers Vater¬
stadt so stark gewirkt zu haben wie heute. Wenn er sich bei Peter Altenberg,
der (ebenfalls bei S. Fischer) eine Auswahl aus seinen Büchern herausgegeben
hat, bis in Miniaturen verflüchtigt, die man gut tut, nicht allzu wichtig zu
nehmen, und die man dann nicht ohne Amüsement genießt, so überwuchert
diese weiche, entkräftende Stimmung bei Schnitzler den ganzen, von ihm groß
gedachten Bau seines Werkes. Schnitzler läßt den Träger der durchgehenden
Handlung, wenn man denn von Handlung sprechen will, einmal darüber
klagen, daß der Norddeuische mit dem Begriff Wien immer wieder eine Art
Phäakenbegriff verbinde. Ja, wer trägt denn daran mehr Schuld als
Schnitzler und alle, die um ihn und neben ihm stehn? Vor Kürnberger oder
Anzengruber würde uns ein solches Urteil wahrlich nicht einfallen. Aber
nnn wieder dieser „Weg ins Freie", der da einem jungen Edelmann und
Dilettanten gebahnt wird, und der im Grunde trotz aller schöntönenden Worte
nichts ist als der Weg von einem verlassenen süßen Mädel zu — ja, wozu?