I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 213

Freie
box 3/2
23. Der Neg ins

7
Nr. 49.
„Neue National-Zeitung
Seite 11.
ADa GO
ceulleron.
Prof. Dr. M. GRUNFELD:
Die deutsche und Weltliteratur ist an Schilde¬
rungen von Juden und jüdischen Zuständen nicht
arm. Ueber allzuviel Liebenswürdigkeit der Schrift¬
Randbemerkungen zum Romane
steller, die sich mit uns beschäftigten, können wir
uns nicht beklagen. Spielhagen, Heyse, in dem ja
„Der Weg ins Kreie
auch ein Tropfen oder mehr jüdischen Blutes fliesst,
Von Arthur Schnitzler.
Raabe, man denke nur an den famosen „Hunger.
Endlich ein Buch, nach dessen Lektüre man
pastor“ bis auf den seichten Stilgebauer, der einen
sich nicht fragen muss: wozu wurde es geschrie¬
jüdischen Märtyrer in seinem dickleibigen „Götz
ben? Ein Werk wurde der Welt geschenkt, das ge¬
Krafft“ leiden und sterben lässt, aber auch mit stil¬
schrieben werden musste und dass es Schnitzler
lem Behagen den Antisemitismus in einer kleinen
geschrieben, dieser durchdringende Beobachter des
deutschen Universitätsstadt schildert, sie alle haben
Wiener Lebens, der dessen geheimste Tiefen er¬
uns mit der eingeborenen teutonischen Gehässigkeit
schaut, wie kein anderer, das freut uns besonders.
angefasst und wohl nicht wenig dazu beigetragen,
Schnitzler, so liest man in Blättern, welche an¬
dass Wucherer und Jude in vielen Kreisen, auch
geblich die Weltbeglückung verkünden, für die aber
etzt noch, als ziemlich identische Begriffe betrach¬
die Welt nur aus Arbeitern und getauften Juden zu
tet werden. Und doch, wie wenig wissen sie von
bestehen scheint, hätte den Wiener Roman schrei¬
unserem Leben und unserem Leide! Wollen auch
ben sollen, und siehe, die Berge kreisten und es
davon nichts wissen. Sie kennen die jüdische Volks¬
wurde eine Maus geboren. In gemeinverständliches
seele nicht, holen sich Rats bei Juden, die es nur
Deutsch übertragen: Ist die Wiener Gesellschaft
dem Namen nach sind. Das ist aber das Verdienst
wirklich mit der Judenschaft gleichbedeutend, deckt
des Schnitzlerischen Werkes: es zeigt die jüdische
sie sich mit den Juden der Leopoldstadt? Mit Ver¬
Seele und zergliedert sie mit der Kunst des litera¬
laub, Ihr Herren Kritiker von der getauften Konfes¬
rischen Anatomen.
sion. Die Juden der Leopoldstadt wollte Schnitz¬
Man merke nur, wie die „jüdischen Witze“, wel¬
ler nicht schildern, er weicht der Schiffgasse und
che das Fräulem Else Ehrenberg gar nicht gerne
ihrer Umgebung in weitem Bogen aus. Was er uns
hört, Schnitzler dazu dienen, um gewisse unserer
zeigt, das ist der Modernismus des heutigen Juden¬
Charakterzüge zu erklären. Unsere Respektlosigkeit
tums, und wie sich dieser mit, möchte man sagen,
naturgeschichtlicher Notwendigkeit entwickelt hat.
das viel zu denken gibt und über das man viel
Den Mittelpunkt des Romans bildet nicht der Jude,
schreiben und sprechenkönnte. Nur, dass man damit
sondern der arische Adelige, der nicht weiss, was
viele geheime Interieurs, die lieber verschlossen blei¬
er will, von Blume zu Blume flattert, geniesst und
ben, öffnen müsste .... Diese Respektlosigkeit uns
die Vorrechte des Adeligen für sich in Anspruch
selbst gegenüber die sich in dem klassischen „Ae
nimmt. Und um ihn schart sich der Kreis der ver¬
soi“ des Juden offenbart, wenn er in seinem Gegen¬
schiedenartigsten jüdischen Typen, welche die Li¬
über einen „Glaubensgenossen“ erkennt, der ihn
teratenkaffechäuser und Salons bevölkern: die
fragt, wann wir in diesem Jahre Pessach feiern, ist
Auch-Juden, die Zionisten, die verschämten und un¬
ein Stück von der Sklavenkette, die wir, Kinder des
verschämten Juden, die Konfessionslosen und die
Golus, ob wir esnun gelten lassen, oder nicht, noch
Volksbeglücker. Eine Naturgeschichte des Juden¬
immer nachschleppen.
*
tums unserer Zeit möchte ich diesen Roman mit
Und dann der berühmte Familiensinn der Ju¬
seiner feinen psychologischen Kleinmalerei nennen
den. Heinrich Beermann, Leo Golowski und
und wünschte, dass er, als Volksbuch, weiteste Ver¬
seine Schwester Therese, die Sozialdemokratin, die
breitung fände.
mit Demeter Stanzides einen Ausflug nach dem Gar¬
dasee macht, und (sich dort an den Aristokraten
Die Wahrheit über das Judentum unserer Zeit,
Georg Wergenthin sehr intim anbiedert, Jassen
besonders in den grossen Städten, kündet dieses ein¬
wenig davon spüren. Jüdischer Familiensinn, auch
zige Werk. Wie ein Volk zu dem wurde, was es
ein altes Erbe, das ein junges Geschlecht, welches
ist. Das hat die Gesellschaft aus den Juden ge
den „Weg ins Freie“ beschreitet, wie eine leere
macht, zürnend klingt es aus jedem Worte des Men¬
Schale hinwirft. Diese Alten mit ihrer Vergangen¬
schenschilderers. Schnitzlers Juden-Roman
heit! Als wäre es ein Verdienst, alt geworden zu
ist in der Tat der Wiener Roman; er bedeutet
sein. Die Gegenwartsleute wollen von der Vergan¬
echte Heimatskunst und der Erdgeruch des Wiener¬
genheit nichts wissen mit ihren verstaubten Idealen
tums weht uns hier mit seltener Schärfe an. Dies
und fadenscheinigen Tugenden. Tugenden, von die¬
sind noch immer die Wiener Phäaken, die vor uns
sem Worte spricht man heute lieber gar nicht, es
hier erscheinen. Es ist die Wiener-Stadt, bei deren
klingt so altväterlich, muffig und erinnert an das
Nennung, im Reiche draussen, gewisse andere
alte jüdische Familienhaus, in dem der Vater befahl
Worte mitzuschwingen beginnen, auch ohne dass sie
und die Kinder auf seine Worte lauschten, es erin¬
ausgesprochen werden: Walzer. Kaffechaus
süsses Mädel
nert an die alte „Schul“, in der man noch auf Got¬
Backhendel. Fiaker Par-
44
lamentsskandal.“ Dieses Wien hat Schnitzler ge¬
tes Wort horchte. Was gilt dies alles einem moder¬
schildert, das Wien des „Walzertraums“, und, wenn
nen Geschlechte? Der Dr. Stauber, der den
die luden in dieser Stadt eine so bedeutende Rolle
Leuten, auch dem Hermn Aristokraten, der von Blume
4
##r. 11
—LIL