I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 216

23.
Der Nec ins Freie
RA AARRARRAssasssessssAaseaaesssaee
dem Feuilleton bekannte — Roman „Starkenberg“
Egon Fleischel & Co., Berlin) ganz von den finsteren
Drohungen des frühen Mittelalters erfüllt, so steht der
Roman „Das adlige Schützenfest“ (ders. Verlag)
gar lieblich an dem spielerischen Ausgange zu einer neuen
zu unserer Zeit. Huldschiner ist in Hamburg ansässig,
aber seine Dichterheimat ist Bozen. Und wer könnte Bozen
sehen und es nicht lieben! Die Anmut dieser Rebengelände
st in die Majestät der Berge eingebettet, in ihrer Hut
chläft die Vergangenheit und wird wieder wach im Dichter¬
traum. Aus dem Trotz der schroffen Felsen lösen sich die
ritterlichen Gestalten der Brüder Starkenberg und ihrer
Sippen, Raubtiergelüste verschollener Urzeit springen den
friedfertigen Bürger an, die Männer der Stadt greifen
zur Wehr, aber die Frauen beben in schauernder Erwar¬
tung, die Stärke über sich zu prüfen. Doch eine darunter
wird durch des Räubers Lust zuBoden geschleudert, und ihre
Liebe und ihr Haß klammern sich an ihn als sein Ver¬
hängnis und seine Seligkeit. Es ist ein Jahrhundert der
nackten Leidenschaften und der nackten Taten, aber schon
zieht die Schwüle des Niedergangs wie mit dem giftigen
Schwaden der Pest über sie hin. Nun wird es Nacht, auf
daß es Morgen werden kann. Und die Sonne eines freieren
und aufgeklärten Jahrhunderts steigt auch über Bozen auf
und erschöpft sich in der strahlenden Vergeudung des
Sonnenkönigtums. Wieder grollt in der Ferne der Donner,
das Gewitter der französischen Revolution kauert sprung
bereit am Horizont. Als ein Menetekel des Kommenden,
als ein Symbol der Zeit falliert zu Bozen das altadlige
Kaufmannshaus Pilgram — gerade zur Stunde, da seinen
Erben die spielerische Königskrone des Schützenfestes krönen
sollte.
Jenes Jahrtausend der Leidenschaften und der
Taten ist dahin, ein Kaufmannshaus falliert, und ein
Bräutigam kneift um einer entgangenen Mitgift willen.
Es ist bewunderungswürdig und vollkommen, wie es Huld¬
schiner verstanden hat, auch in seinem Stil die barbarische
Rauheit und Sinnenschwüle dort mit der zierlichen und
gezierten Koketterie hier zu kontrastieren. Zwei weltge¬
schichtliche Zeitabschnitte einer Stadt werden in ihrer
Fabel wie in ihren Menschen gr# bar verlebendigt, die
dichterische Charakteristik, die in dem raubritterlichen Ge¬
walt= uied Kriegsstück al fresco malt, strichelt in der fried¬
lichen Idylle mit der subtilen und anmutig verschnörkelten
Differenzierung des Rokoko. „Das adlige Schützenfest“
ist das Buch unserer Damen.
Zwei der feinsten Aestheten und Psychologen der mo¬
dernen Literatur sind durch Beziehungen mancher Art mit
Hamburg verknüpft: Otto Gysaes „Silberne Tänzerin“
(Albert Langen, München) wurde hier schon gerühmt:
Friedrich Huchs Roman „Die beiden Ritterleben“
Georg Müller, München) fand hier gleichfalls lebhafte
Zustimmung. Auf Huchs neuen, im selben Verlage er¬
schienenen Roman „Die Familie Hellmann“ sei
heute vorerst als auf eines der wertvollsten Bücher des
Jahres dringlichst aufmerksam gemacht, eine eingehende
Würdigung behalten wir uns vor. Als dritter Neuroman¬
tiker gesellt sich ihnen Bernhard Kellermann, der
Dichter der „Ingeborg“ bei. Sein „Tor“ (S. Fischer
kehrt in die Hütten der Armut und des Elends ein, und
ein Hauch reinster Menschenliebe geht von ihm aus und
äutert diese Atmosphäre, die der Naturalismus mit Eifer
uchte, zu einer ergreifenden Lyrik der Liebe.
Das vortreffliche Buch „Cavete“ des Hamburger
Autors Emil Sandt ist in einer sehr preiswerten, gut
ausgestatteten Volksausgabe erschienen, die sich zu Ge¬
schenkzwecken in hervorragendem Maße eignet. (Verlag J.
box 3/2
C. C. Bruns, Minden.) Kein zweites Buch des letzten
Jahres ist mit einer solchen Aufmerksamkeit ausgenommen:
worden, wie „Cavete“. Gab es wirklich eine Tageszeitung,
in der nicht sein Autor zitiert wurde? Gab es wirklich in
Deutschland einen Gebildeten, der teil am öffentlichen
Leben nimmt, dem nicht das drohende „Cavete“ Emil
Sandts ins Ohr geklungen ist? Die Erfüllung des Wun¬
ches Ungezählter nach Besitz dieses mit hinreißender Kraft
geschriebenen Kulturromans wurde durch den ziemlich hohen
Preis der ersten zwölf Ausgaben weiten Kreisen erschwert.
Wie glücklich darum der Gedanke des Verlegers, dies wert¬
volle Werk in einer Volksausgabe herauszubringen, gewesen
ist, beweist sich aus dem Umstand, daß in verhältnismäßig
kurzer Zeit 16 neue Auflagen dieser Volksausgabe herge¬
tellt werden mußten. Als eine besonders wertvolle Beigabe
bringt diese preiswerte Volksausgabe außer dem faksimi¬
ierten Vorwort des Grafen Zeppelin eine sehr interessante
Schilderung der denkwürdigen Schweizerfahrt, die Emil
Sandt als einziger Fahrgast Zeppelins mit dem bei Echter¬
dingen verunglückten 2 II mitgemacht hat.
In dem Abstande, der den Dichter vom Unterhaltungs¬
schriftsteller trennt, darf nach Huldschiners und Huchs
oetisch wertvollen Büchern wohl auch Wilhelm Poecks
Roman „Sinkendes Land“ (Union, Deutsche Ver¬
lagsgesellschaft, Stuttgart) in einer Aufzählung lesens¬
werter Neuheiten Platz finden. Schon deshalb, weil es
ich um den ernsthaften Versuch eines einheimischen Autors
handelt, dem Problem der Küstengestaltung und des Hallig¬
chutzes nahezukommen. Das Leben auf einer einsamen
Nordseehallig ist mit sorgfältiger Beobachtung der Details
geschildert, und die Studien und Experimente des Hallig¬
forschers Dr. Landsberg sind mit beinahe historischer Treue
aus der jüngsten Wirklichkeit übernommen. Schade nur,
aß der Roman selbst in seinen Verwicklungen und Men¬
chen
— zumal in der psychelogisch sehr brüchigen Gestalt
der Großstadtsirene Liane Lessing — gar so romanhaft
geraten ist. Das Meer büßt darüber vollkommen seine
Naturgewalt ein und wird zum technischen Romanbehelf
degradiert. Ein zweiter Roman Poecks, „Nordkaper“
Philipp Reclam, Leipzig), knüpft in seinen Gestalten an
die „Turmschwalben“ an. Frau Paridom Dabelstein, Ham¬
burgs Wilhelmine Buchholz, taucht an Bord eines Hapag¬
Nordlandfahrers wieder auf, und um sie gruppieren sich
allerhand weitere lustige Typen zu einem fidelen Reise¬
roman. Zielpunkt der Romanfahrt ist Island, das Poeck
mit gewandtem Feuilletonismus zu schildern weiß.
Doch es ist an der Zeit, des Versprechens wieder ein¬
jedenk zu werden: beste Bücher namhaft zu machen. Unter
ihnen darf Timm Krögers „Buch der guten
Leute“ (Alfred Janssen, Hamburg) keinesfalls fehlen;
eine Novellen sind mit eitel Sonne und Liebe gesättigt,
darinnen die Menschen in Tugenden und Fehlern gedeihen,
daß es eine Pracht ist. Die Nebel, die vom Meere her
manchmal schwermutsvoll in die Geschichten des Holsteiners
einfallen, fehlen in Rudolf Presbers sonnigen No¬
vellen: sie sind auch diesmal, da sie „Das Mädchen
vom Nil“ und andere kuriose Menschenexemplare schil¬
dern (Concordia, Deutsche Verlagsanstalt, Berlin), von
jener herzerfrischenden Sonnigkeit durchglüht, die noch die
Sünden und Gebrechen mit gütigem Humor vergolbet,
Tiefern Einblick in das Innerste dieses Sonntagskindes
unserer Literatur gewährt sein neuer Gedichtband „Aus
Traum und Tanz“ (J. G. Cottasche Buchhandlung,
Stuttgart). Der lyrische Rhythmus liegt Presber im Blute,
und Verse sind seine eigentlichste Sprache: die Sprache
seiner Seele.
Humor ist ein seltener Gast in
darum — wie Norbert Falks hier scho
buch des Humors“ und seine „Se
& Co., Berlin) erweisen — umso g
wunderlich klingen, aber es ist so:
geprüfte, ist reicher an humorbeg
Deutschland. Man blättere daraufh
manns Verlagsanthologie „Aus deut
Da ist Meister Peter Rosegge
neues Geschichtenbuch „Alpen
o
mann, Leipzig) im Titel seines Dich
schweres Fabuliertalent treffend syn
Tiroler Rudolf Greinz, der
Lande“ (Staackmann) lustige Ges
Charakteristik und kerngesunder Leben
Seinen südtiroler Landsmann
bücker vollends schätze ich seit seinem
bann“ als einen der schärfsten Psych
& Co., Stuttgart) bestätigt diese hohe
brückers dichterischer Begabung. Zu
sich seit Jahresfrist ein junger Ges
hafte Frische, dessen bildlicher Reicht
des Talent ihm mit einem Schlage
Vaterland, sondern die ganze deutsc
meinen Rudolf Hans Bartsch
an dieser Stelle über seine „Zwöl
geschrieben. Heute liegt im gleichen
der nicht weniger reiche Roman
kindern“ vor: das Wienerischste,
die neuereDichtung aufzuweisen hat.
die Gelegenheit ergeben, auf dieses
kurz gekennzeichneten Bücher des näh
heute genügt der Vermerk: das neu
da. Emil Ertl, Steirer gleich Bar
Wien zum berufenen Schilderer der
geworden, hat seinen „Leuten vom
Wien vor hundert Jahren
Romasi aus dem Sturmjahre „Fr
meine“ — Wien vor fünfzig Jal
(L. Staackmann.) Das kulturhistor
Barksch und Ertl stark ist, tritt in A#
erstem großen Roman „Der We
Fischer, Berlin) gegen das Psychologi
Buch von den letzten und geheimsten
Seelenoffenbarung aus subtilster dich
Buch, das den Lebensästheten durch
begleiten wird. Schnitzlers Freund
legt in seinem Roman „Die Rah
betonter auf das Kulturgeschichtliche
Gewicht. Wenn er Wort hält, so he
ntimsten Seelenbeobachtungen wie an
reichen Geschichte einer Schauspiele
einer Wien umfassenden Romanserie
Wir haben uns in Oesterreich ve
uns nun erinnern, daß auch uns
nungen und Begabungen blühen.
dessen „Peter Camenzind“ den schr
„Zwölf aus der Steiermark“ teilte,
Novellenbande „Nachbarn“ (S.
8
Niveau, das seine fortschreitende
vellisten großen Stils, zu einem unser
Freundes Finckh „Rapunzel“ (De
Stuttgart) wurde schon gewürdigt.
naturalistischen Romans, als Natur
derin ersten Ranges erweist sich in de