I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 230

Der Weg ins Freie
23.
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dieses Buches. Obwohl sie nicht neu ist. Es ist dieselbe intellekte
Sprache, sicher noch intellekter als sonst, sicher aber seine persönlichste
Sprache. Schon deshalb persönlich, weil dieser Roman ein Roman¬
des öffentlichen und geselligen Lebens ist: Ein Wiener Roman. Ein
Roman des Lebens. Und — ein Lebensroman.
Dieser Roman ist ein Wiener Roman. Und zum ersten Males
spricht der Dichter hier über soziale Dinge der Gegenwart. S#hnitle#
ließ sich mit seinem „Wiener“ Roman Zeit. Zu Dutzenden erst, enen
in letzter Zeit Wiener Romane. Jetzt haben wir den Wiener Roman,
Der zugleich einer der besten (wenn nicht der beste) Roman der
Gegenwart ist. Hier wird zum ersten Mal die Geschichte des heutigen
Jubenkums geschildert. Und wie dieses Judentum an vielem Ubel
selbst schuld ist. Weil es seine Religion verachtet, oder weil es sich
gedrückt fühlt oder weil es über seine Religion nicht hinweg kann,
Da gibt es alle Typen: Den reichen, religiös gesinnten Kaufmann,
seinen Sohn, der vor einer Kirche den Hut zieht, einen Schriftsteller,
der die ganze Judenfrage als lächerlich nimmt, einen Dichter, der
über seine Religion nicht hinweg kann, einen Religionsfanatiker usw.
Und all diese Leute können ihre Gedanken nicht ins Weite richten,
weil sie irgend ein kleinlicher Umstand festhält. Und dann sind die
Fäden gezogen. Das Judenkum mit der Aristokratie, die Aristokratie
mit dem Bürgertum. Und dann kommt man natürlich zur Politik.
Einer sagt (der wunderbarste Satz, der über Österreich je geschrieben
wurde) „Österreich ist ein Land, auf das man, wie auf einen Kasten
Ein
trommelt, bis endlich Saiten und Kasten zerspringen werden.
anderer (ein Staatsmann) sagt, er habe das Gefühl, daß sich in
österreich nicht das geringste ändern würde, selbst wenn man ein
Jahr sein Bureau nicht beträte.
Aber nicht diese Dinge sind es, die den Wert dieses Buches
ausmachen. Sondern die „Geschichte". Eine ganz kleine Alltags¬
geschichte, so einfach und doch so furchtbar kompliziert. Ein junger
Mann (entfernt verwandt mit Stefan von Sala) geht durch seine
Jugend. Eigentlich eine Geschichte des Werdens. Er geht durch
seine Jugend und lernt sich selbst erkennen. Er lernt Leute kennen,
nimmt Ankeil an deren Schichsal, verliert einen Vater, lernt eine
Liebe verstehen, wird Vaker und verliert zugleich sein Kind, scheidet
von seiner Geliebten und lern“ erkennen: daß ein Künstler alleine
sein muß. Hie Kunst — hie Familie. So wird hier von einem
Dichter gesagt: „Ein Dichter mützte sich von jedem zurückziehen, der
aiso besonders von jedem, den er
für ihn keine Rätsel mehr hat ...
Und in all den Wirrnissen findet er den Weg zu sich
liebt.“
* „
und zu seiner Kunst, den Weg ins Freie.
All dies ist beinahe primitiv. Nicht? Und doch ist alles so
wunderbar kompliziert. Und alles so einfach gezeichnet, mit einer
meisterhaften Ruhe, einer Sprache voll innerster Kultur und Reiz un'
Georg von Wergenthin verreist mit
Anmut und Geschmack.
** *
seiner Geliebten, um ihren Zustand zu verbergen. Sie gebärt ihm
ein totes Kind. Und er muß sich beinahe Vorwürfe machen, weil er
das Kind nicht genug herbeigesehnt hatte. Er begreift es nicht, daß
ein totes Kind zur Welt kommen kann. Wena einer stirbt, der
gelebt hat, der jung gewesen, gearbeitet, geliebt, Kinder hatte,
und wenn selbst die Mutter gestorben wäre, hätte sie auch ein Dasein
oder er selbst; all die lebten, hatten gelebt.
hinter sich gehabt,..
Aber ein Kind, komme tot zur Welt, ohne eine Sekunde gelebt zu
haben. Unsinnig ist das. Und er fühlt sich beschämt vor der Ex¬
kelntnis der Nichtigkeit. Beschämt und verarmt und elend.
Dies ist die wunderbarste Stelle dieses Romanes. Und zugleich
die erhabenste.
Und dann verläßt Georg seine Geliebte, weil er seine Kunst
Hie Kunst — hie
erkennt. Ein Künstler muß allein sein.
Familie. Er findet den Wer zur Kunst, den Weg ins Freie.
Dieser Roman ist das menschlichste Werk Schnitzlers. Nur ein
größter Dichter und ein größter Mensch vermag solches zu bieten.
Ein Zeikroman von einem Satyriker. Und so milde ist er, wie der
erste Frühlingssonnenschein und dann wieder, knapp daneben, von
einer ungeahnten, aufrührerischen Tragik. Der Mensch ist hier so
groß wie der Dichter. Alles ist hier menschlich gesehen, mit den
Augen eines Menschenkenners und gefühlt mit dem Herzen eines
großen Menschenverstehers. Dieser Roman gibt Dinge, die zum
Denken sind und die sich nicht so leicht besprechen lassen. Vielleicht
überhaupt nicht, da sie ganz persönlich sind und nur persönlich sind
und nur persönlich aufgefaßt werden können. Wie dieses Buch nicht
nur für gründliche Kenner, sondern auch für große Menschen ist.
Nur mit Bewunderung dürsen wir zu dieser reifsten Schöpfung
unseres größten gegenwärtigen Dichters emporblichen. Nur
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mit Bewunderung. Laßk uns diesem Dichter Blumen streuen und
Stefan=Pottatschen=(Wien).
Evod rufenil
volles, aber durchaus unausgeglichenes, fluktuieren¬
des Ganzes ergebe.
„Tolstoi oder Shakespeare?“ Von Fritz Bley
(Zeitfragen, Sonnt.=Beil. d. Deutsch. Tagesztg., 36).
Tolstoi, der zum großen Dichter Begabte, ist „immer
mehr zum sozialistischen Revolutionär geworden.
Vielleicht wird eine spätere Geschichtschreibung prüfen
können, wie weit der Einfluß seiner jüdischen Gattin
hier mitgewirkt hat.“ (?)
Petöfi und Nietzsche.“ Von Dr. Abel v. Ba¬
rabas (Pester Ll. 237). — „Das Bernoulli=Buch.“
Von Michael Georg Conrad (Münch. N. Nachr.
„Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche.
460).
(II.) Von Dr. Max Lohan (Hamb. Nachr. 687).
„Nietzsches Freundeskreis.“ Von Richard Wal¬
laschek (D. Zeit 2163). — „Ecce homo.“ (Ebenda
2166),
Japanische Liebeslyrik.“ Von Wolfgang
Es war ein gutes =Jahr, das Wiener Jahr
Gersdorff (D. Zeitgeist 39).
D.
1908“ meint Stefan Zweig in einem Feuilleton
„Wie gewinnt man Urteil über ein Buch?“
über Rudolf Hans Bartschs neuen Roman „Die
Von Pastor O. Hartwich (Weser=Ztg. 23. bis
Haindlkinder“ (N. Fr. Presse 15841), „nicht nur
25. Sept.).
darum, weil viel Fahnen geschwungen wurden, fest¬
Der Brief.“ Von Hans v. Kahlenberg (D.
täglich die Straßen sich füllten, weil das Jubiläum
Zeit 2164). Über den Niedergang des Briefes als
alle Glocken von fern und nah zusammenklingen ließ,
Kunstform.
sondern auch weil der künstlerische Boden Wiens
Das Grimmsche Wörterbuch und die deutschen
selten bessere Früchte getrieben, als in diesem hellen
Akademien.“ Eine Aufklärung von Prof. Dr. Edward
Frühling und milden Herbst. Ein Jahr der Romane
Schröder=Göttingen (Frankf. Ztg. 276). Abwehr
war es. Und gerabe der Roman, der Wiener Roman,
der Anklagen, die er auf Sp. 122 des vorigen
hatte in unserer Literatur — die, sagen wir es nur
Heftes angeführte Artikel von Dr. Otto Maußer
offen, heute stärker ist, als je seit Grillparzers
enthielt.
= im Kreise des Könnens gefehlt.“ Er
Ein aufrechter italienischer Dichter.“ [Salvatore
Todestag
nennt Schnitzlers „Weg ins Freie“, Wassermanns
Farina.] Von Siegfried Samosch (Voss. Ztg. 455).
„Kaspar Hauser“ Ginzkeys „Jakobus und die
Wells.]
„Der phantastische Roman.“
[H.
Frauen“, Emil Luckas „Tod und Leben“ (s. das
ztg. 39).
Von Otto Soyka (Wien. Sonn= u. M..
daraus auf Sp. 191 abgedruckte Kapitel. D. Red.)
„Die Mutter Maupassants an Flaub. „“ (Un¬
und Bartschs „Zwölf aus der Steiermark“ als die
veröffentlichte Briese.) Von Paul Zifferer (N.
besten Kreszenzen dieses reichen wiener Literatur¬
Fr. Pr. 15847). Diese Briefe erscheinen demnächst
ahres, um dann die „Haindlkinder“ als einen
in der großen französischen Gesamtausgabe Mau¬
„unbändigen, glühenden Hymnus auf Österresch“
passants als Einleitung zu dem Band der Gedichte,
zu charakterisieren. — An der selben Stelle (15841)
die s. Zt. Flaubert gewidmet waren.
beschäftigt sich ein Feuilieton mit Frank Wedekinds
neuestem dramatischen Produkt „Oaha“, das in
so sonderbar deutlicher Weise den „Simplizissimus“
seinen Verleger und Herausgeber zum Stichblatt
nimmt, um scheinbar gegen den Witzblatt=Betrieb im
allgemeinen zu Felde zu ziehen. — Nanny Lambrechts
neuer Roman „Die Statuendame“ der in der
deutsch=belgischen Wallonie spielt (Minden, Bruns),
findet in der „Köln. Volksztg. (Lit. Beil. 40)
eine längere Würdigung. Er wird — nach dem
Untertitel von Brentanos „Godwi“ — ein „ver¬
wildeter“ Roman genannt, in dem ungeheuerliche
Breiten, Geschmacklosigkeiten und ein bis zum Ent¬
setzen mit stilistischen Kuriositäten überladenes Deutsch
mit einer Fülle feiner psychologischer Einzelheiten
durchsetzt seien, und die begabte Verfasserin wir)
gewarnt, ihrer Originalitätssucht weiter so die Zügel
— Otto Julius Bierbaum kämpft
chießen zu lassen.
gegen die abfälligen Besprechungen an, die Otto
Erich Hartlebens unlängst herausgegebene Briefe
an seine Frau fast überall erfahren haben (D. Zeit
2162) und versteht nicht, wieso man in dem Buche
einen Akt der Pietät= und Taktlosigkeit, geschweige
denn eine Schädigung von Hartlebens Andenken
= G. Spero zeichnet im stutt¬
habe finden können.
garter „Neuen Tagblatt“ (225) das literarische
Porträt Heinrich Lilienfeins, und Max Prels
beschäftigt sich im wiener „Fremdenblatt“ (269)
eingehender mit Rudolf Kaßners neuestem philo¬
ophisch=dichterischen Buche „Melancholia“ in dem
ein verwirrender Symbolismus mit einer poten¬
zierten Ironie ein zwar sehr geist= und geschmack¬