I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 231

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ins Freie
23. Der Nec

„Der Weg ins Freie.“) (Zu
Von Ludwig Hirschfeld =Wien.
Es ist eine rechte Freude und der feinste literarische Genuß, die
Entwicklung eines Dichters selbst mitanzusehen und mitzuerleben. Als
Zeitgenosse dem gleichsam beizuwohnen, was man in zehn oder zwanzig
Jahren in Literaturgeschichten und im Konversationslexikon sehr nüch¬
tern und übersichtlich beschrieben lesen kann: das Werden dieses Dich¬
ters aus spielerischen Anfängen, von denen unmutig tendenziöse Ueber¬
gänge für eine Weile ins Artistische und schließlich sogar ins Ver¬
schwommene und Unverständliche führen. Und wie dann dieser Dichter
von seinem gesunden Sinn geleitet aus dem literarischen Dickicht, in
dem man das Leben vor lauter Worten und Gleichnissen und die
Menschen vor lauter Aestheten nicht sieht, plötzlich wieder heraus¬
findet, wie er sich mutig hineinstürzt in die Wirklichkeit, unbeküm¬
mert um die verwirrende Zahl von lauten und stummen Fragezeichen
und Problemen, die hier seiner warten.
Das ist, in allgemeine Worte gefaßt, die Entwicklung Artur
Schnitzles. In einer Spanne von kaum zwei Jahrzehnten um¬
lle von Stusen, von Formen und Nüancen, zu deren
Ueßerwindung andere ein ganzes Leben verschrieben haben, und das
hek bei manchen oft nicht ausgereicht. Um sich diesen merkwürdigen
Verdegang zu veranschaulichen, braucht man ja nur irgend zwei Werke
Schnitzlers gegenüber zu halten: das bis zum Dilettantischen ehrliche
und unbeholfene Erstlingsschauspiel, das Märchen und die raffinierte
Seelenkomödie „Zwischenspiel“. Oder die gezierte und kokette Anatol¬
tändelei und den herben tiefernsten „Einsamen Weg“. Wenn man
zwei solche Werke Schnitzlers miteinander gleichsam konfrontierte,
sie würden sich nicht erkennen, eins vom andern nichts wissen, nicht
einmal, daß sie Kinder desselben Vaters sind. Diese verblüffende
Vielgestaltigkeit und Verwandlungsfähigkeit mag ja denen um Hou¬
ston Stewart Chamberlein, die am Menschen bloß die Schädelform
und nicht seinen wahren Wert sehen, willkommener Anlaß zu allerlei
spitzfindigen Schlüssen sein. Wer jedoch einen Dichter nicht mit dem
Zirkel, sondern mit feineren künstlerischen und menschlichen Ma߬
stäben mißt, der wird sich gestehen müssen, daß man es hier mit einer
ganz außerordentlichen Begabung zu tun hat, mit einem redlichen, ge¬
wissenhaften Künstler, der unermüdlich an sich arbeitet — vielleicht
ogar mehr, als seiner Konstitution zuträglich ist.
Seitdem Schnitzler sich in dem Novellenband „Dämmerseelen“
als Meister einer edlen und geläuterten Erzählungskunst erwiesen
hatte, und zwar in einer intensiv österreichischen, aber gar nicht mehr
jungwienerischen Weise, wußte man, was von ihm jetzt zu erwarten
sei: der große Wiener Roman, diese ungestillte literarische
Sehnsucht der letzten Jahrzehnte. An interessanten Versuchen hat es
ja nicht gefehlt, man braucht nur an den reichbegabten J. J. David
zu denken; aber in seinen Romanen fand sich doch immer nur ein mit
den enttäuschten und verbitterten Augen des Provinzlers gesehenes
Wien, während die epische Schilderung dieser Stadt gerade das Ge¬
genteil erfordert: einen zwanglosen freien Menschen, der hier aufge¬
wachsen ist, alles kennt, alles versteht und der selbst im Zorn und im
Ekel noch zu lächeln vermag. Das alles hat man Schnitzler mit Recht
zugetraut, dem reise Mann, der die Vierzig, diese Schwelle zum
Roman, überschritten hat, und als die Kunde von seinem Buch mit
dem wunderbaren Titel vernehmlich wurde, da bildete sich zum Emp¬
fang des Werkes ganz von selbst eine Triumphpforte von Neugierde,
von Vermutung und Erwartung.
Das soll nur gleich gesagt werden: Eine leichte, aber nicht zu
verbergende Enttäuschung hat sich beim ersten Anblick eingestellt.
Der Dichter selbst trägt vielleicht weniger Schuld daran, als das
Publikum; die Erwartungen waren zu groß, zu unbescheiden. Aber
es will manchem scheinen, daß „der Weg ins Freie“ nicht der große
Wiener Ronan ist, den wir alle meinten. Gewiß, er spielt im
heutigen Wien, im heutigen Oesterreich und bringt eine Ueberfülle
von frappierenden Beobachtungen und Zügen aus unserem gesell¬
schaftlichen und öffentlichen Leben. Es sind darin sogar eine Reihe
von politischen und literarischen Episoden, Typen und geflügelten
Worten verwertet, die jedem einigermaßen Eingeweihten und zum
Teil jedem Zeitungsleser bekannt sind. Und dennoch, es ist nicht
das, was wir meinten und hofften, eine künstlerische Konzentration
des nach Einheit strebenden Durcheinanders, das man Oesterreich
nennt. Kein ruhiges übersichtliches Bild des zwischen gestern und
morgen pendelnden Wien — im Gegenteil, der Fremde, der diesen
Wiener Roman liest, wird uns am Ende für noch wirrer und un¬
ruhiger halten, als wir wirklich sind.
Es ist wohl ein charakteristischer Umstand, daß man die eigent¬
liche Fabel, den eigentlichen Helden dieses Romans gar nicht als das
Wichtigste empfindet, daß einem das Drum und Dran, die Einzel¬
heiten aus den politischen, literarischen und jüdischen Kreisen viel
merkwürdiger und wesentlicher erscheinen. Trotzdem ist dieser Held,
Georg Freiherr von Wergenthin, eine sehr feine und sympathische
Figur. Ein spielerisch und träumerisch veranlagter Stimmungs¬

andererseits war es ihm wohl ein tiefes persönliches Bedürfnis, sich
über alle diese Dinge auszusprechen, mit sich selbst und mit den
anderen, mit der Unzahl von Fragen und Tendenzen und mit seinen
eigenen Zweifeln und Gefühlen einmal abzurechnen. Er hat dabei
nur den großen Fehler begangen, sich eine Sphäre künstlich zu kon¬
struieren, in der Aristokraten und Juden, Kavallerieoffiziere und
Sozialdemokraten gesellschaftlich und freundschaftlich miteinander ver¬
kehren. Das gibt es in Wien nicht, was freilich für den Dichter
nicht in Betracht käme und was man ihm auch nicht zum
Vorwurf machen dürfte, nenn er nicht selbst die tatsächliche Wirk¬
lichkeit fortwährend in seinen Dienst stellen würde. So weit es sich
dabei um Politik und andere öffentliche Gebiete handelt, ist das nur zu
rühmen, denn das fehlt ja unserem Schrifttum — dieses Interesse für
die praktischen Sorgen des Alltags. Aber leider hat sich Schnitzler
wieder allzu gemütlich und breit im Wiener Literaturkaffeehaus nie¬
dergelassen, dessen Gestalten hier eine große Rolle spielen. „Der
Weg ins Freie“ ist bald ein Jndenroman, bald ein Aristokraten= und
Literatenroman, und wenn dies auch charakteristische Elemente des
heutigen Wiens sind —, ein richtiger Wiener Roman läßt sich aus
ihnen allein nicht gestalten.
Ganz eigenartig verhält es sich mit der Technik dieses Buches.
Es enthält sozusagen alle bisherigen Techniken Schnitzlers. Die von
den modernen französischen Erzählern übernommene Jungwiener Ma¬
nier, die Personen seitenlange, stumme, psychologische Monologe hal¬
ten zu lassen, was einigermaßen ermüdend wirkt und was man in
dem Werk eines reifen Erzählers lieber vermieden gesehen hätte.
An der scharfen, oft ans Krasse streifenden Charakterisierung einzelner
Figuren erkennt man den kundigen Dramatiker und im funkelnden
Dialog den berufenen Lustspieldichter, was Schnitzler leider nicht sein
will. Im ganzen ist es das bedeutsame Produkt einer gereiften Er¬
zählungskunst, die sich namentlich in dem meisterhaften ersten Kapitel
bewährt. Trotz der schweren Fracht von Problemen und Gedanken
fließt der Roman in wunderbarer Ruhe sicher dahin, und selbst dort,
wo man ihn zu breit, zu schleppend, allzu genau und gewissenhaft
empfindet, bewundert man den tiefen sittlichen Ernst, die edle dichte¬
rische Ehrlichkeit, die vielleicht den eigentlichen Wert dieses Buches
ausmachen.
Noch manches Für und Wider ließe sich vorbringen, manches
beanstanden, manches rühmen, aber dieser Roman braucht wohl nicht
nach dem Leisten rezensiert zu werden, wie irgend ein Artikel des
Büchermarktes. Einer Erscheinung wie Arthur Schnitzler gegen¬
über gibt es weder Lob noch Tadel, sondern bloß ehrerbietige Auf¬
richtigkeit und eine Wertung nach weiteren Gesichtspunkten. Und da
erscheint einem dieser Roman als der verheißungsvolle Anfang einer
ernsteren und strengeren Zeit, nicht bloß für den Dichter, sondern auch
ür die gesamte Wiener Literatur. Endlich ist ein
Anfang gemacht worben, an dem andere lernen und und fortsetzen
können: der Anfang einer großzügigen epischen Darstellung dieser
Stadt, die vielleicht zu reich ist an Kontraften und Reizen, an Gefüh¬
len, Stimmungen und ähnlichen dichterischen und romanhaften Ele¬
menten, als daß ein Romandichter sie völlig bewältigen könnte.