I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 245

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23. Der Nec ins Freie
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DIe HIILFE
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ungibt. Zille ist ein rascher Psycholog, mit sehr viel Auf¬
Die gleiche trostlose Erkenntnis bewahrheitet sich in dem Los
fassung für den Inhalt der Situation, rasch und prompt
der Paare, die sich für Lebenszeit gebunden haben. Das Licht der
Flamme, das ihnen in die Ehe hineingeleuchter hat, ist ausgelöschi,
und sarkastisch wie der Berliner in Gebärde und Urteil.
im Zwielicht wandern sie gesondert und treffen sich nur bei der
Sein Berliner ist berlinisch gezeichnet, d. h. unpathetisch.
Gemeinschaft der Interessen und in der Sorge um die Kinder.
Baluschek aber hat die schwere Geste. Er malt den ganzen
Aus dieser Traurigkeit klingt es zuweilen heiter auf wie die
Hintergrund des proletarischen Gefühlssozialismus. Für ihn
verführerische Lockung eines Wiener Walzers, und sie ist in eine
gibt es auch in der Illustration keine gelegentlichen Vor¬
heitere, mit weichen Linien aufgerissene Umwelt eingebettet. Wien,
kommnisse, sondern höchstens, wenn man so sagen darf,
wo es noch ganz bodenständig wirkt. Der Graben und der Stefans¬
„charakteristische Begebenheiten“. Wenn eine betrunkene
platz, die innere Stadt mit ihren vergangenheitsgeschwärzten Häusern
Frau an einen Laternenpfahl taumelt, so ist das für ihn
und Palästen, die lieben altmodischen Zimmer, groß und hell, mit
keine Anekbote, sondern ein typisches Bild aus dem Leben
Lrväterhausrat ausgestattet; die Kirchen und die öffentlichen Gärten,
der Ausgestoßenen. Eine Evisode im Tanzsalon des Vororts
und die herrliche Umgebung, die Voralpen mit ihren Dörfern und
ommerlichen Villen, der Wiener Wald, dem Häusermeer eng
das Sonntagsvergnügen des jungen Proletariats. Ein
angeschmiegt, ein Schönheitstempel auf der Schwelle einer
Luftballonhändler
das Porträt einer Allgemeinheit.
Großstadt.
Wenn Baluschek in allen diesen Bildern vom Einzelnen,
Man muß vielleicht das Schicksal haben „d’etre un autrichien
Persönlichen zum Typischen strebt und gelangt, so leistet er
doublé d'un israelite“ (Österreicher und Jude zu sein) um sich in
eine an sich bedeutende Sache. Er wird zu einem künst¬
die Stimmungen der Dichtung restlos einzufühlen. In die konfessionellen
lerischen Psychologen des primitiven Gefühls= und Genu߬
Halb= und Untertöne, in den Ton des Literaturcafés, in die Gewohnheiten
lebens. Das ist ein Kapitel der Wehmut, und es durfte
der Coterien, die, bei winterlichen „jours“, in Sommerfrischen, an
nur in die Hände eines so ernsten Menschen kommen, um
heimischen Gebirgsseen, streng gegen fremde Elemente abgeschlossen, zu¬
nicht zu Sentimentalität oder Tendenz zu verkitschen. Auch
einander halten. In dem charme der Menschen Reiz ist ein diel„ u deutsches
Baluschek steht ein paarmal auf der Grenze dorthin, hat sie
Wort für die Mischung von Anmut, müdegewordener Kultur, Balkan¬
barbarei, Güte, Schärfe und salopper Skevsis). Der Frauen, die
wohl auch schon überschritten. Aber das macht im Gesamt¬
der Natur noch weniger entfremdet sind, als ihre Schwestern im
bild seines Werkes wenig aus. Er hat fast als einziger
Norden, die, im Begriff sich zu Fach= und Berufsmenschen zu
etwas ähnliches geleistet wie die literarischen Naturalisten
wandeln, Leidenschaft und selbstvergessene Sinnlichkeit den kleinen
der neunziger Jahre. Seine Bilder sind ein kemmentarloser
Ladenmädchen überlassen. Der Mätner, die durch die Welt wie
Aufschluß über das Arbeiterleben. So bewegt man sich,
durch einen Harem schreiten (die Christen, vielleicht durch Türken¬
so sitzen die Kleider, so wird der Ausdruck der Augen,
so
erbteil gleichfalls ein wenig Orientalen), denen das weibliche Ge¬
erschlaffen die Muskeln im Gesicht, wenn man Tag für
chlecht im allgemeinen so viel mehr gilt als das Individuum: die
Tag die gleiche, mühselige, eintönige, lange Arbeit tut,
Frau. Und man versteht die aristokratischen Allüren der jungen
Juden, die gewürdigt werden, Komtessen Tänze und Theaterstücke
wenn man zu einer unzureichenden Ernährung verurteilt ist,
einzupanken und mit deklassierten Prinzen zu verkehren. So in¬
wenn man mit Frau und Kindern in zwei schlechtgelüfteten
brünstig ist der Fleiß gewisser Wiener Kreise, die Manieren eines
Stuben haust.
Fürsten, einer Gräfin nachznahmen, daß für die Augen eines aus¬
Das erzählen diese Bilder. Es läßt sich gegen ihre
ländischen Oberkellners die Täuschung zuweilen tatsächlich gelingt.
Form, gegen die nüchterne und mitunter peinliche Durch¬
Es wird Schnitzler vorgeworfen, sein Roman sei ohne Einheit,
zeichnung, die schwerfällige, luftlose Modellierung allerhand
zwei Probleme liefen dari unvermittelt parallel. Mir erscheinen
einwenden; aber, sehen wir davon ab, dann begreifen wir
ie miteinander eng verfiochten. Die Juden und die Frauen, seit
die innere Größe dieser Leistung.
Jahrtausenden die Unterdrückten und auf Schleichwegen die Sieger, ab¬
gelehnt, betrogen, heimlich aufgesucht und mächtig, beide streben sie
Seit einer Reihe von Jahren malt Baluschek Eisenbahner
in Schnitzlers Buch aus ihrer Enge. Unter den Juden ist nicht
und Eisenbahnzüge. Die Sezession zeigte eben einen Zyklus
einer, der noch von dem Stolz erfüllt ist, zu Jehovas Auserwählten
Eisenbahner“, der, freilich etwas langweilig, in großen Ol¬
zu gehören (selbst der alte Zionistenschwärmer trägt sein Mauschel¬
kreidestiftzeichnungen die verschiedenen Bahnbeamten in ihrer
deutsch mehr wie eine Wasse, als wie einen Orden). Und die
Tätigkeit vorführt; hier wird die stumpfe Art der Technik
jungen Mädchen erörtern sexuelle Dinge, treten ins öffentliche Lehen
und die langsame Peinlichkeit der Zeichnung zu einer Gefahr.
und verleugnen die Empfindung, die bisher ihr Fluch und ihre
Was mit der Bahn zusammenhängt, ist rasch, lebendig, mit
Seligkeit gewesen ist — das Auf= und Untergehen in der Liebe,
die bedingungslose Treue. Zwei unbescholtene, charaktervolle junge
Plötzlichkeiten verwandt; Baluschek aber ist schwer, und seine
Damen, die eine mit der Mutterhoffnung unter ihrem Herzen, be¬
Bewegung ermangelt mitunter der Glaubhaftigkeit. Doch
gegnen einander auf ihrer ungesetzmäßigen Hochzeitsreise, und jede
es bleibt sein großes Bild „Bahnhof“, und die Bewältigung
fühlt sich von einem erotischen Gelüst gestreift, für den Partner
dieser zeichnerisch unsäglich schwierigen Aufgabe — Blick von
ihrer Freundin. Eine dritte, die ihrer Leidenschaft zum Opfer fällt,
einer Bahnüberführungsbrücke auf das Gewirr von Schienen
hat vermutlich noch an ihrem Sterbemorgen einen Zufallsliebhaber
und Zügen — ist ein außerordentliches Zeugnis seines
beglückt. Die Juden und die Frauen
— sie zeigen beide sich in
Künstlertums. Das macht ihm niemand nach: es handelt
einer neuen Phase, beide auf der Suche nach dem Weg ins Freie.
sich nicht nur um mühsamen zeichnerischen Fleiß, sondern
Und wenn sie ihn bis zum Ziel gegangen find? Wenn der
Jude sich ununterscheidbar der Christenheit verschmilzt, schwindet
Aum eine fabelhaft sichere Vorstellungsbegabung, um solchen
lich zitiere Thomas Mann) „eine der außerordentlichsten Daseins¬
Komplex zu bewältigen. Zugleich ist das Bild ein Be¬
formen, die sich in einem erhabenen oder anrüchigen Sinn von der
kenntnis zur großstädtischen Landschaft. Wo die Schienen
gemeinen Form auszeichnet.“ Und wenn die Frau die Torheit
glänzen, wo die Züge einherrollen, der Dampf aus den
ihrer Treue preisgibt, den Wahn der monogamen Keuschheit, löscht
Maschinen ausbricht, Signallaternen zerstreut schimmern
sie etwas Leuchtendes im Menschheitsdasein, verarmt sie es um die
und die Luft vom Kohlenruß und Staube trüb geworden
künstlerische Kraft, die herbe Ichheit, die jedes Einzige vom Viel¬
auch dort lebt die Schönheit, wie sie vom Ernst der Kunst
zuvielen unterscheidet.
begriffen wird.
Theodor Heuß.
Noch einer sucht den Weg ins Freie. Der junge Komponist,
des Dichters Held und sein geheimer Liebling, der so einfach
christlich wirken soll und der (und das scheint mir des Werkes
Der Weg ins Freie
Schwäche) eine so komplizierte Judenpsyche hat. Zwischen Menschen¬
Roman von Arthur Schnitzler.
ehnsucht und Menschenüberdruß wird er hin und her getrieben
S. Fischer Verlag.
Mit einem Seufzer der Befreiung scheidet er, nach jedem längeren
Ich will dem Schnitzlerschen Buch keine schulmeisterliche Zensur
Beisammensein, von seinen Freunden, nach jeder Liebesnacht von
kerteilen. Ich will nur bekennen, welchen Genuß ich ihm verdanke,
der Geliebten. Das Kind, das sie erwartet, ist ihm teuer, weil es
und aussagen, welche Weisheit es mir zu enthalten scheint. Es
ein Teil von ihm ist, ein Glied der Kette, die seine Urahnen an
gibt, im feinsten Sinne realistisch, das Leben wieder — es wäre
seine Enkel schließt. Doch da das Schicksal diesen Keim vernichtet,
anmaßend, zu sagen, so wie es ist — doch so wie es sich als Er¬
schreckt er davor zurück, ein neues Leben aufzuwecken. Wozu auch
scheinung im Geiste eines Verstehenden spiegelt, der zugleich ein
da selbst die Blutsgemeinschaft den Abgrund zwischen Mensch und
Dichter ist. Es spricht von unabänderlichen Grausamkeiten in einem
Mensch nicht überbrückt, da auch zwischen ihnen das Tiefgründigste
Ton erfahrener Wehmut, aus der jeder laute Schmerzensausschrei
und Letzte unaussprethbar bleibt.
ausgeschaltet ist. Ausgeschaltet aus einem Werk, in dem in Moll¬
Jeder Verantwortung und jeder Last entbürdet, steigt er zu
und Durtonarten das tragische Motiv sich wiederholt: zwei Menschen
dem Gipfel, von dem es kein Zurück mehr gibt, auf dem vielleicht
lieben sich und gehen auseinander. Sie sagen Liebe zu der ge¬
die großen Werke und die erhabenen Gedanken reifen, doch die
heimnisvollen Sehnsucht, sich ineinander zu verlieren, und erfahren,
Blume Menschlichkeit und Rücksicht nicht gedeiht. Aus dem ge¬
daß nur die Körper Zärtlichkeiten tauschen, Seele mit Seele aber
chützten Tal der Illusionen geht er in die rauhe Höhenluft der
sich nie vermählen kann.
Klarheit, aus warmer Menschennähe in das Gletschereis der Ver¬