I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 250

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23. Der Neg ins Freie
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Es gibt zahllose Romane, die in Berlin spielen; auf den
großen Berliner Zeitroman aber warten wir noch immer ver¬
geblich. Die Anläufe sind ja kaum zu übersehen. Am nächsten
ist noch Paul Lindau dem angestrebten Ziel gekammen, aber auch
er hat nur gut beobachtete Ausschnitte aus dem Berliner Leben
gegeben; das ganze Leben und Treiben der Reichsharptstadt; alle
Strömungen und Unterströmungen zu einem großen, künstle¬
risch wirkenden Bilde zusammen zu schließen, ist Lindau, dem
brillanten Plauderer, nicht gelungen. Ihn nicht und keinem
anderen sonst. Kretzer vielleicht ist auf dem Wege zum großen
Berliner Roman, und wenn die künstlerische Objektivität ihn erst
einmal über den proleterischen und polemischen Zug in seinem
Schaffen hinausheben könnte, dann würde der große Wurf ihm
zuerst gelingen. Einstweilen aber müssen die Berliner sich mit
Hoffnungen trösten, und zu ihrem Glück sind sie in ihren An¬
sprüchen allgemach so bescheiden geworden, daß die Freundschen
„Revuen“ ihnen als Ausfluß der spezifisch berlinischen Kunst
vollauf genügen. Die Wiener sind da entschieden im Vorteil
vielleicht darum, weil die Kunst in Wien viel tiefer ins Volk
hinabgreift. Vor kurzem ist ein Roman hier besprochen worden,
den man als „Wiener“ Roman werten durfte: „Phäaken“ von
Conte Scapinelli. Darin spiegelt sich auspezeichnet das breite,
behäbige Wienertum, und die treibenden Wurzeln des Wiener Le¬
bens sind schmerzhaft lloßgelgt. Nun hat auch Arthur
chnitzler einen Wiener Roman geschrieben, oder richtiger:
den Wiener Roman. „Der Weg insgFreie“ heißt das
Buch, das S. Fischer, Verlin. verlegt hat Eines der wunder¬
vellsten Romanwerke der lehte.=Führe¬
# Bich in das man
ich versenkt, das einem nicht losläßt, wen jeder einzelne der
Manschen dieses Buches den Leser interessiert. Und hat man's
gelesen, so setzt erst recht das volle Genießen im Verarbeiten all
der vielfachen Eindrücke ein und man vergißt es nicht wieder.
Den Weg ins Freie suchen alle die Menschen des Buches, jeder
auf seine Au, wie eben er sich das Freie, das reine, überwun¬
dene und darum erst recht inhaltsvolle Leben denkt. Der Zio¬
nismus, der Sozialisnis, die Politik, die Kunst, die Liebe und
nicht zuletzt die Aroeit — beschäftigen alle, bis sich ihnen endlich
die Pforte ins Freie auftut: der Tod den einen, die Erlösung
durch Arbeit den andern, den Schwachen und Glücklosen das stille,
resignierte Verneinen des Lebens. Was irgend unsere Zeit be¬
vegt, das klingt — aus der wienerischen Auffassung heraus —
in dem Buche kraftvoll an, und ein reifer Mann, der mit geradezu
goetheischer Weisheit auf alle Erscheinungsformen des öffentlichen
Lebens und in die zartesten Regungen deo Seele sieht, weiß zu
allem ein kluges, feines Wort zu sagen. So ist der „Weg ins
Freie“ ein Buch voll lebensvoller Wahrheit und Weisheit, voll
tiefster Empfindung und abgeklärter Anmut und Schönheit.
Schnitzler hat nie etwas Reiferes und Schöneres geschaffen, als
dieses Buch, und er wird vielleicht diesen Höhepunkt nicht wieder
erreichen. Eine andere Frage ist, ob den Wienern das Buch son¬
derlic, gefallen wird. Es steckt für sie viel Schmerzhaftes darin,
das Wienertum ist aller Sentimentalität entkleidet und von dem
sagenhaften guten „Weaner Herz“ ist keine Spur zu finden.
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Der Weg ins Freie. Roman von Artur Schnitzter. Verlag
von S. Fischer. Berlin. Preis 5 Mark.

Das ist der erste bedeut¬
same Roman, den das heutige Wies hervorgebracht hat. Freilich sind
in den letzten Jahren schon manchehgute und noch mehr mittelmäßige
und schlechte Wiener Romane geschfieben worden, nämlich Bücher, in
denen allerlei lotale Begriffe, Bezeihnungen, Gewohnheiten, mit einer
#ns Panoptikum heranreichenden, künstlerischen Lebensechtheit vorge¬
ihrt wurden. Diese kindische Art, Wiener Romane zu schreiben, war
amentlich bei der seligen Jungwiener Moderne sehr beliebt, voran
ermann Bahr, für den auch dies freilich nur eine vorübergehende
Verwandlungsform bedeutete. Viel ausdauernder verharrten seine
mehr oder minder talentlosen Nachahmer bei dieser Manier und ihre,
ür den einheimischen wie für den fremden Leser gleich unleidlichen
Bücher, die meistens nur gestammelt und nicht erzählt waren, haben
den Wiener Roman mit Recht in einen ziemlichen Mißkredit gebracht.
Daneben hat es auch manche weitere und herbere Erscheinung ge¬
geben, begabte Erzähler, denen das Leben und Werden dieser Stadt
mehr war als ein bloßes, dankbares und gefälliges Milieu, nämlich
ein Problem, mit dem sie kämpften wie mit einer persönlichen Sache,
die sie episch zu bewältigen trachteten und meistens mit halbem Ge¬
lingen. Als Repräsentanten dieser Geuppe könnte man J. J. David
niennen, der trotz seiner schönen und reichen Begabung eine zu schwer¬
blütige Provinznatur war, als daß ihm der Wiener Roman jemal¬
hätte völlig gelingen können. Da bleibt aber nur einer, der größte
unter den ehemaligen Jungwienern, mit denen er eigentlich nichts
emeinsam hat, als die Herkunft und etliche Schwächen und Unarten:
Artur Schnitzler. Von seinen allerersten Novelletten an zeigt er sich
sofort als berufener Wiener Erzähler, der das Wienerische und Oester¬
eichische nicht bloß prahlerisch und großtuerisch mit Würbe führt,
ohne einen inneren Zusammenhang damit zu haben wie die anderen.
Bei Artur Schnitzter spürt man den Wiener Ton, die österreichische
Art und Weise auch dort, wo darüber nichts Näheres und Deutlicheres
gesagt wird, und selbst wenn er das Kostüm fremder Länder und
ferner Zeiten anlegt, man merkt sofort: das hat ein Oesterreicher ge¬
schrieben. Das erinnert an das „wienerische Griechentum", das Laube
Grillparzers Dramen nachsagte oder an Friedrich Halm, der durch die
ganze Weltgeschichte und um den ganzen Globus gewandert ist und
dennoch unter den exotischesten Breitegraden der nämliche öster¬
reichische Beamte blieb. Oesterreichertum läßt sich nicht so leicht ab¬
treifen, und das mag ein Nachteil sein, es ist aber auch der best¬
möglichste Prüfstein für die Echtheit unserer heimischen Dichter und
Künstler. Bei Schnitzler verschwindet das ausdringlich Jungwienerische
immer mehr und mehr, das Heimatliche wird in einer vornehm abge
tönten Weise, wie hinter einem Schleier sichtbar. Das gilt insbesonder
von dem Novellenbande „Dämmerseelen“, der dem Romane mit einer
Verheißung vorangeht. Und nun liegt dieser Roman, an dem der
dichter wohl einige Jahre gearbeitet hat, in Buchform vor uns
Juerst ist er bekanntlich in der „Neuen Rundschau“ erschienen. Es
ist¬
beschwerlich, ein ernstes großes Werk mit monatlichen Unterbrechungen
zu lesen und die Sehnsüchtigsten haben in diesen Fortsetzungen nur
blättern können. Aber auch beim Blättern findet man manches und
meistens das Charakteristische: Aristokraten, Schriftsteller und Juden,
diese drei Typen kehren fortwährend wieder. Inzwischen bemerkt man
politische und mondäne Gestalten, Anekdoten, Aussprüche, die einem
ehr bekannt vorkommen. Und auf jeder Seite spürt man förmlich eine
Last von solcher Nachdenklichkeit, von komplizierten Ausführungen und
funkelnden Weisheiten. Nur vom eigentlichen Roman, von seiner
Fabel und den Hauptgestalten merkt man beim Blättern nichts. Und
diese ersten, flüchtigen Eindrücke werden dann durch die geschlossene
Lektüre des Buches so ziemlich bestätigt. Die Fabel des Romanes und
seine beiden Hauptgestalten verblassen und verschwinden einigermaßen
neben den übrigen, viel kräftiger ausgeführten Partien, und das ist
eigentlich sehr schade, denn es ist eine überaus dichterische Fabel, die
in dem komplizierten Buch wie eine schlichte Novelle eingekapfelt ist,
und es sind zwei überaus feine Gestalten, dieser Georg v. Wergenthin
und diese Anna Rosner, der durch spielerischen Lebensgenuß und
Träumer ins Dilettierende geratene Komponist, und die Klavier¬
lehrerin, die beinahe Opernsängerin geworden wäre. Beide empfinden
das Dasein im oberen Kreise eng und unbehaglich, ohne Sinn und
Ziel, und das treibt sie instinktiv zusammen, sie fangen ein Ver¬
hältnis an, wie man zu sagen pflegt. Aber noch niemals hat illegitime
Liebe und Zärtlichkeit eine so wunderbare, bei aller Aufrichtigkeit reine
und keusche Schilderung gefunden. Wie in beiden das Elternbewußtsein
erwacht, wie die Sehnsucht nach dem Kinde sie immer inniger zu¬
ammenhält, das hat Schnitzler mit künstlerisch taktvoller Verwertung
psychologischer und physiologischer Kenntnisse dargestellt. Und dann,
als das Kind tot zur Welt kommt, was für Georg das Ende aller
bürgerlichen und verliebten Pläne und den Anfang einer ernsten,
strengen Künstlerschaft bedeutet, da erhebt sich diese simple Wiener
Liebesgeschichte zu erstaunlicher und ergreifender Größe. So schlicht
und innig die Gestaltung dieser Fabel ist so kompliziert und subtil
ist alles übrige im Roman. Die Ausschnitte aus den aristokratischen
und jüdischen, aus den literarischen und politischen Kreisen des Wien
von heute sind durchsetzt mit verblüffend scharfen Beobachtungen, mit
einer kostbaren und weisen Nachdenklichkeit, die den ganzen edeln,
ittlichen Ernst zeigt, mit dem Artur Schnitzler an diesem Buch ge¬
arbeitet hat. Aber so wertvoll und charakteristisch dies alles auch ist,
n technischer und künstlerischer Hinsicht wird das Buch durch diese
Fülle von Nebenfiguren und Nebenproblemen zweifelsohne beein¬
trächtigt. Die reife, ruhige Erzählungskunst, die das Buch von der
ersten bis zur letzten Seite erfüllt, verliert durch diesen unökonomischen
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