I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 254

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23. Der Nec ins Freie
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Literarische Rundschau.
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winternden Vennlandschaft überreicht uns keinen katholischen Roman, eine so große
Rolle der Katholizismus auch notwendig spielt, zumal wenn nach einer Vision ihrer
armen, siechen Mutter die Bäreb Hüesgen mit dem blöden Brüderchen nach Echter¬
nach „springen“ geht. Ein prachtvolles Kernkapitel. Nicht zufällig wird die
„heiligste, wundertätigste Mutter Gottes von Lourdes“ angefleht oder der Satz ein¬
geschaltet: „Was für Frankreich Lourdes, das war für die Deutschen Echternach.“
Man denkt an Zolas letzte künstlerische Schöpfung von den unglücklichen „Drei
Evangelien“, sieht aber eine selbständige Kraft beim Werk auf dieser Eisenbahnfahrt
unter den Kranken und Hoffenden, in dieser heiligen und profanen Kirmeß des von
einer lärmenden Menge überfüllten Gnadenortes bei dieser Springprozession mit
dem eintönigen Gebetsschwall zu Sankt Willibrord und dem frommburlesken Tanz¬
lied „Adam hatte sieben Söhn'“ mit ihren verzückten Mänaden und ihren jähen
Todesfällen. Nach solcher ungeheuren Erregung begeht die Bäreb eine schwüle
Liebesnacht, aber das reife Wert hütet sich nicht bloß hier, wo ein zarter Schleier
gewoben ist, vor allen groben Trümpfen des Naturalismus und erhält dann, ehe
ganz kurz mit einer andern hochzeitlichen Versorgung gewinkt wird, das Zusammen¬
leben der Bäreb und Herrn Josef Schmölders im eingeschneiten Jagdhause rein von
wohlfeiler Erotik.
erlin, Fleischel. 1908.
Hat hier eine robuste Natur trotz der sehr geschickten Exposition darauf ver¬
Berlin, Fi
1908.
zichtet, die hinüber, herüber schießenden Fäden zu einem festen Geflecht zu binden,
erlin, Fleischel. 1908.
so ist Arthur Schnitzler, der keineswegs robuste, durch ein Übermaß von Analyse
Halle, Fricke. O. J.
und durch zwiespältige Führung um die Einheit gekommen. Eine Liebesnovelle und ein
hard Voß. Stuttgart und
breiter, viel mehr in geistreichen Reden flimmernder als in Begebenheiten verketteter
Roman vom Wiener Judentum haben mittelst des Genius Loci und des fort¬
ie, wenn wir der Dichterin
währenden Verkehrs Georg von Wergenthins in israelitischen Kreisen doch kein
Boden ihrer Vollkraft, der
harmonisches Ganzes ausmachen können. Daß ein adliger Asthet beinahe nur solchen
Ebene oder Berlins Keller¬
Umgang pflegt und die Zirkel seines Bruders, des Diplomaten, meidet, ist übrigens
Karl Friedrich Lessing sie
für die Kaiserstadt keineswegs so gesucht und unwahrscheinlich, wie gegen Schnitzler,
germeister Leykuhlen von
vielleicht auch mit dem alten, ja wohl auf Mosenthal gemünzten Witz: „So viele
e weicher Mann, zu dem
Juden und so wenig Handlung!“ behauptet worden ist. Allerdings gibt es in Wien
Verstande: „Ich aber lieb
seit den Zeiten des Kongresses eine vornehmere Geselligkeit, als sie hier sich auftut,
nd darum versteh ich Sie
frauenhafte Salons, wo die Bauernfeld und Saar materielles und geistiges Behagen
kein geschlossener Roman
fanden. Schnitzlers Titel entspricht beiden Elementen des Buches: wir fragen uns
ne festes Ineinandergreifen
am Ziele nicht bloß, ob dieser aristokratische Dilettant, ein sogenannter sehr talen¬
das hohe Moorplateau

tierter Mensch, durch die Abstreifung Annas es wirklich zu großen Musikschöpfungen
an triebkräftigen Motiven
oder nur zu neuen Ansätzen und zu einem Intendantenpöstchen bringen werde,
chöne Helene den Gästen
sondern wir sehen nach all den vielverschlungenen Pfaden auch für seine jüdischen
den kleinen Leutnant zu¬
Bekannten keinen Weg ins Freie. Ein feiner, skeptischer Beobachter, verfolgt
ir werden heimisch in dem
Schnitzler keine Tendenz und läßt sich auf zionistische oder andre lösende Zukunfts¬
Heideland rodende Straf¬
konstruktionen, wie etwa George Eliots Idealismus sie im „Daniel Deronda“ baute,
sen Elenden halt gemacht,
nicht ein, außer daß der grimmige Justamentjude sein Auge nach Palästina richtet. Ohne
gestalten wie den fahlen,
zu erschöpfen und ohne gerade in die reinsten Kulturen zu zielen, bietet das Werk
brinchen, vor der Bestie in
mannigfache, richtig erfaßte Schattierungen und ruft bisweilen in dem Salon Ehren¬
jungen, männlichen und
berg sehr verschiedene Individuen zur Aussprache, wo denn auch die Demi=Vierges
en Hütte, ihrem Hausrat
mit frivoler Anmut ein Geplauder auf der scharfen Kante führen. Klugen und
n, ihrem wiederum voll¬
milden alten Herren steht eine meist ungütige jüngere Generation gegenüber. Da
schwere Prüfung eines
ist der immer zu ritterlicher Fehde bereite semitische Kavalier; da ist der vor all¬
Wasserleitung, aber eine
deutscher Rüpele dem Parlament entweichende Politiker; da ist der schroffe wohl
r Marienley sammelt sich
nicht zufällig mit „Kürnberger“ reimende Nürnberger; da ist besonders der als
s Kreuz wie einen Trost,
Schriftsteller und Liebhaber scheiternde, würdelos und kokett in seinen Eingeweiden
? Sie alle waren ja ans
wühlende Bermann, grundverschieden von Wergenthin, den er anzieht und abstößt,
er unsre Realistin, deren
und Heinrich wird die Oper so wenig zu Ende dichten als Georg sie zu Ende kom¬
Mittelpunkt stellte, ver¬
ponieren. Sie alle sind keine Freien, keine Befreier. Das Judentum kämpft hier
sterin der lenzenden oder
nicht ideale Kämpfe, wie auch die innerösterreichische Politik nur aus dem Gesichts¬