I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 258

box 3/3
23. Der Neg ins Freie

O0 AN
heraufbeschwören: nach so vielen Fronten
das Hinzutreten eines Konfliktes zwischen
den beiden Reichshälften würde unsere
kämpfen zu wollen, wäre selbstmörde¬
risches Beginnen. Unsere Lage der englisch¬
Dosition noch mehr erschweren.
russisch=italienischen Koalition gegenüber
Wien, am 28. Dezember 1908.
ist schon heute keine beneidenswerte, und
Rundschau.
Wes
zeitliche und örtliche Distanz voraussetzt, die dem
Erzählende Literatur.
In einem groß angelegten Werke, das die
wüste Literaturaufgebot gründlich erschwert wird.
analptische Untersuchung aller typischen Erschei¬
Wer sich diese Distanz sozusagen mit Faust
nungen der neuesten Literatur einem tiefen syn¬
und Hirn trotz allem schafft und wahrt und zu¬
thetischen Zweck und Gehalt dienstbar macht und den
zeiten vor die mißliche Aufgabe gestellt ist, was
chöpferischen Charakter der großen literarischen
er im Umkreis wahrnimmt, mitzuteilen, der wird
Kritik aufs neue dartut, betrachtet S. Tublinski
an den außerordentlichen Verheißungen des kri¬
den „Ausgang der Moderne““ mit einem weiten
tischen Dropheten, so sehr er ihnen Wahrheit und
Überblick auf die Zukunft der Dichtung. Seine
Wirklichkeit wünscht, zuweilen recht inständig
Folgerungen entstammen bei aller genauen Strenge
zweifeln.
es Urteils doch der unverlierbaren Hoffnungs¬
Unter den Kennzeichen jener modernen
freudigkeit eines künstlerisch fruchtbaren Geistes,
Klassizität, die Lublinski schildert und voraus
der seinen Wünschen mit dem Rechte einer dich¬
agt, ist vor allen eines wesentlich: das ureigen¬
terischen Konzeption Erfüllung zubilligt und das
tümliche Zusammentreffen und Wirken des in¬
Endziel aus der logischen und Empfindungs¬
tuitiven Erkennens, Erlebens und naiven Schauens
wahrheit vorwegnimmt. Er sieht ein Zeitalter
mit einem scharfen bewußten Verstande. Eine
einer neuen, eigentlichen, weil umfassenden Hu¬
erhöhte, ständig schwingungsfähige allgemeine
manität, eine höchste Dollendung aller künstleri
Stimmungsbereitschaft gibt dem Schaffenden die
chen Gebilde voraus, wie sie den wesentlich mo
Mittel und Gegenstände des Ausdruckes. Don
dernen Lebensformen technisch, ökonomisch, ge¬
der Gegengewichtigkeit seines organisierenden,
sellschaftlich und politisch zum Teile bereits eignet,
wählenden, richtenden Geistes hängt es ab, ob er
während eine originale materielle Kultur ihres
mit ihnen einen geschlossenen, wohlgegliederten
gemäßen geistigen Ausdrucks in Kunstschöpfungen
Bau errichten kann. Jede poetische Hervorbrin¬
gung zeigt diese beiden wirkenden Grundkräfte
bloß jene Bewegung gelten dürfte, die unter dem
n einer mehr oder minder glücklichen Verbindung,
Gesamtnamen der „Moderne“ geht. Man folgt
die wahrhaft bedeutende, und sei es die motivisch
mit ungemeinem Genuß dem zugleich intellektuell
kleinste Schöpfung, ruft den Eindruck voller Har¬
scharfen und kühn phantasievollen Gedanken¬
nonie hervor; jeder Impuls der Phantasie, des Ge¬
gange, der die Hauptströmungen der jüngsten
ühls ist durch die beherrschende Energie und Treue
Literatur aus der Vergangenheit ableitet, dann
es Verstandes, des ordnenden, zugleich befrei¬
in ihrer gegenwärtigen Zweiteilung: Neuromantik
enden und bindenden Geistes gerechtfertigt,
und Naturalismus auf die Erhebung der exakten
Mittel und Zwecke, Form und Inhalt werden
Wissenschaften, auf die Steigerung differenzie
eins und der einzelne Gegenstand, sein Motiv
seine Aussage, sein Charakter erweitert sich zu
einem Weltbilde, wie es denn das eigentümliche
gehaltes zurückführt und ihre notwendige Ver¬
Problem des Schaffens ist, von welchem Aus¬
inigung zu einer Monumentalität voraussieht,
gang der Betrachtung immer, das Ganze des
in welcher eine Sputhese der jetzt noch wider
Daseins zu treffen.
treitenden Einzelkräfte zu bleibenden Formen der
Im Epischen drückt sich diese eigentümliche
großen, unverlierbaren Gattungen: Lprik, Epos,
Zweiseitigkeit des dichterischen Drozesses durch
Drama sich vollzöge.
das „Finden“ und „Erfinden“ aus. Das „Finden
In solcher kritischen Bildung, die ihren um¬
ist Sache der Eingebung, der bedingten Artung
fassenden Charakter selbst als Kunstwerk eines
jedes individuellen Erlebens, der unwillkürlichen
modernen Humanismus darstellt, findet man eine
Einordnung aller Eindrücke unter gewisse sub¬
Rechtfertigung der kritischen Hroduktion über¬
jektiv notwendige Anschauungsformen. Das tp#
haupt, die aus dem Einzelnen das Ganze, aus
ische Schicksal, die einzige Möglichkeit der Deu¬
dem Besonderen das Allgemeine zu erschließen hat,
tung, Anregung, Auffassung bietet dem Schaffenden
was freilich nicht bloß eine eigentümliche und
einen genau umgrenzten Kreis — einen „Fund“
seltene Begabung, sondern auch eine geistige,
von Stoffen und schließt ihn zugleich not¬
wendig von anderen aus, eine Art von poetischer
* Leipzig, C. Reißner 1908.
0