23. Der Ne
ins Freie
box 3/3
„
Zuchtwahl, die sich bei scheinbarer Dielseitigkeit,
ja Zufälligkeit doch der Willkür und beliebigen
Auslese entzieht. Dagegen ist innerhalb dieser
Erfahrungsreihe und subjektiven Veranlagung das
„Erfinden“, die geistige Anordnung und Aus¬
wertung der gegebenen Möglichkeiten ganz dem
freien Ermessen, der eigentlichen Verstandes¬
arbeit und der höchsten Verantwortung anheim¬
gegeben.
Betrachten wir daraufhin vor allem zwei
Bücher: Arthur Schnitzlers „Weg ins Freie““
und Rudolf Hans Bartsch, „Die zwölf aus der
Steiermark“*
Der Erlebnisgehalt aller Werke von Arthur
Schnitzler
— ihre Gesteinsader ist nicht eben
mächtig — ihr unüberschreitbarer menschlicher
Umkreis ist der: ein drängender Arbeitsver¬
pflichtung überhobener, im Luxus und in der
fast demütigenden Freiheit eines zwecklosen ge¬
ellschaftlichen Daseins erwachsener Großstädter
ieht sich den ursprünglichen, ihm von der Natur
entzogenen Impulsen gegenüber. Er besitzt sie
nur arg geschmälert und verdünnt und bemüht
sich vergeblich, gequält um die Erlösung durch
eine leidenschaftliche Reagenz. Er erhofft von
irgend welchem Erlebnis die eigene Befreiung
zur Vollkraft der Instinkte. Die naive Stärke
der Empfindung, das einfache sittliche und
phosische Ja und Nein ist ihm versagt, nervöse
Überreizung einerseits, seelische Unfähigkeit ander¬
seits schließen ihn von der Hinnahme des Lebens
und von der einzig erwünschten bedingungslosen
Hingabe aus. Inmitten äußeren Reichtums ver¬
hungert er bei intellektueller Überernährung in
eelischem Mangel. Der Zustand einer trägen
und unwillkürlichen, darum unfruchtbaren Skepsis
ist sein Schicksal, eine endgillige Schicksalsun¬
shigkeit seine Tragik, wenn man diesen ehren¬
werten Begriff auf einen so trostlosen Bewußt
seins= und Gefühlsinhalt anwenden darf. Für
einen solchen Charakter gibt es bei allen deter¬
minierten Verhältnissen keine andere Betätigung
als die erotische, bleibt doch unter allen Erotikern
der eigentlich Liebesunfähige der vielseitigste und
zugleic, der armseligste. Nun schließt sich dieser
engste Droblemkreis: einer ist unfähig zu lieben
und zugleich der versagten Leidenschaft wütend
hingegeben, in aller ästhetischen und pspchologi¬
schen Schulung des Triebes Meister, ohne Kraft
zum Sinn und Inhalt seiner Sehnsucht. Sein
Gefühl reicht nicht weiter als die haut. Der
Verstand kennt diese traurige Gemütsbeschaffen¬
seit und korrigiert die Welt nach ihr, da er sich
nicht nach der Welt einstellen kann. Das gibt
nun ein wesentlich komisches Mißverständnis.
Wäre der Cppus unter den Großstadtfiguren
nicht so häufig, er ließe sich überhaupt nicht
anders als lächerlich, sarkastisch, burlesk nehmen.
Berlin, S. Fischer.
** Leipzig, Staackmann.
79
Da ihm aber eine traurige Wahrheit und Stich¬
hältigkeit innewohnt, lassen sich aus seinen Er¬
lebnissen oder vielmehr Nichterlebnissen immer¬
hin einige sentimentale Kämpfe und weichlich
mondäne, dialektisch ausgeschärfte Situationen
bilden. Als motivischer und charakterologischer
Dorrat, als Erfahrungsgehalt ist dieser gegebene
unentrinnbare und mit der größten technischen
und geistigen Fertigkeit in keiner Weise auszu¬
dehnende poetische Kreis so eng wie nur möglich
ein Tuftraum, dessen Sauerstoffgehalt längst er¬
chöpft. Er genügt, den singulären Einfall einer
Novelle in seine eigentümliche Stimmung zu
setzen, einige Szenen mit dem raffinierten
Untwortspiel von Wendungen natürlich auszu¬
füllen. Wo der Witz, die Gewandtheit, der
theatralische Intellekt vorschlagen, läßt sich mit
diesem Gegebenen unter argen Verzerrungen,
Vergröberungen und Übertreibungen ein Schein
von Konflikten, kein wirklicher tragischer Gegen¬
satz herausstellen, der auf bleibenden, allgemein
ausgreifenden, unentrinnbar willentlichen, öku¬
menischen Droblemen und Charakteren beruht
und eben die erhabene Leidenschaftsfähigkeit,
=Bereitschaft und =Beseligung der Menschen zum
igentlichen Gegenstande hat. Aber auch im
Epischen stößt diese innerste Begrenztheit des
Sehens, Wollens, Empfindens sich an ihrer
Enge blutig, ohne sie zu durchbrechen. Dieses
peinliche wider den Stachel Löcken zeigt
der „Weg ins Freie“. Der eben beschriebene
Charakter wird hier im besonderen mit einer
beim Mißverhältnis von Inhalt und Aufwand
grotesken Umständlichkeit auseinandergesetzt,
wobei das „Erfinden“, die Deutung des
gegebenen Erlebnisgehaltes, seine Einstellung in
die Gesamtheit des Zeitlichen, Gesellschaftlichen,
Dolitischen sich höchst fragwürdig übernimmt und
aus dem ganz Bedingten und Unzulänglichen
eine Art von Wiener Weltbild konstruiert, dessen
Schiefe und Dürftigkeit nicht einmal eine sub¬
ektive Wahrheit zukommt. „Der Weg ins Freie
welch ein Weg und welch eine Freiheit!
ver¬
tellt seinen Erlebniskreis allerdings mit einer Un¬
menge von Figuren, er spielt in dem eigentüm¬
lichen Milieu des reichen Wiener Judentums,
das sein im Grunde ewiges Ghetto für die Welt
zu halten und auszugeben geneigt ist, weil es Geld
genug besitzt, Fahrkarten zu bezahlen, wohin nur
Eisenbahnen und Schiffe reichen und bei der
Käuflichkeit sämtlicher realen Werte, auch die
inneren miterworben zu haben glaubt. Wer aber
wollte dieses in jedem Sinne beschränkte Segment
einer Gesellschaft ernstlich für die Welt, auch
ntur für die Wiener Welt nehmen, seine Figuren
und Begebenheiten, mögen sie noch so „wahr“
nach tatsächlich vorhandenen „Jours“, Cages¬
ereignissen und Modellen abgeformt sein, für die
eelische und geistige Gesamtheit dessen, was eine
Stadt wie Wien, besitzt, will, ausdrückt!
ins Freie
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Zuchtwahl, die sich bei scheinbarer Dielseitigkeit,
ja Zufälligkeit doch der Willkür und beliebigen
Auslese entzieht. Dagegen ist innerhalb dieser
Erfahrungsreihe und subjektiven Veranlagung das
„Erfinden“, die geistige Anordnung und Aus¬
wertung der gegebenen Möglichkeiten ganz dem
freien Ermessen, der eigentlichen Verstandes¬
arbeit und der höchsten Verantwortung anheim¬
gegeben.
Betrachten wir daraufhin vor allem zwei
Bücher: Arthur Schnitzlers „Weg ins Freie““
und Rudolf Hans Bartsch, „Die zwölf aus der
Steiermark“*
Der Erlebnisgehalt aller Werke von Arthur
Schnitzler
— ihre Gesteinsader ist nicht eben
mächtig — ihr unüberschreitbarer menschlicher
Umkreis ist der: ein drängender Arbeitsver¬
pflichtung überhobener, im Luxus und in der
fast demütigenden Freiheit eines zwecklosen ge¬
ellschaftlichen Daseins erwachsener Großstädter
ieht sich den ursprünglichen, ihm von der Natur
entzogenen Impulsen gegenüber. Er besitzt sie
nur arg geschmälert und verdünnt und bemüht
sich vergeblich, gequält um die Erlösung durch
eine leidenschaftliche Reagenz. Er erhofft von
irgend welchem Erlebnis die eigene Befreiung
zur Vollkraft der Instinkte. Die naive Stärke
der Empfindung, das einfache sittliche und
phosische Ja und Nein ist ihm versagt, nervöse
Überreizung einerseits, seelische Unfähigkeit ander¬
seits schließen ihn von der Hinnahme des Lebens
und von der einzig erwünschten bedingungslosen
Hingabe aus. Inmitten äußeren Reichtums ver¬
hungert er bei intellektueller Überernährung in
eelischem Mangel. Der Zustand einer trägen
und unwillkürlichen, darum unfruchtbaren Skepsis
ist sein Schicksal, eine endgillige Schicksalsun¬
shigkeit seine Tragik, wenn man diesen ehren¬
werten Begriff auf einen so trostlosen Bewußt
seins= und Gefühlsinhalt anwenden darf. Für
einen solchen Charakter gibt es bei allen deter¬
minierten Verhältnissen keine andere Betätigung
als die erotische, bleibt doch unter allen Erotikern
der eigentlich Liebesunfähige der vielseitigste und
zugleic, der armseligste. Nun schließt sich dieser
engste Droblemkreis: einer ist unfähig zu lieben
und zugleich der versagten Leidenschaft wütend
hingegeben, in aller ästhetischen und pspchologi¬
schen Schulung des Triebes Meister, ohne Kraft
zum Sinn und Inhalt seiner Sehnsucht. Sein
Gefühl reicht nicht weiter als die haut. Der
Verstand kennt diese traurige Gemütsbeschaffen¬
seit und korrigiert die Welt nach ihr, da er sich
nicht nach der Welt einstellen kann. Das gibt
nun ein wesentlich komisches Mißverständnis.
Wäre der Cppus unter den Großstadtfiguren
nicht so häufig, er ließe sich überhaupt nicht
anders als lächerlich, sarkastisch, burlesk nehmen.
Berlin, S. Fischer.
** Leipzig, Staackmann.
79
Da ihm aber eine traurige Wahrheit und Stich¬
hältigkeit innewohnt, lassen sich aus seinen Er¬
lebnissen oder vielmehr Nichterlebnissen immer¬
hin einige sentimentale Kämpfe und weichlich
mondäne, dialektisch ausgeschärfte Situationen
bilden. Als motivischer und charakterologischer
Dorrat, als Erfahrungsgehalt ist dieser gegebene
unentrinnbare und mit der größten technischen
und geistigen Fertigkeit in keiner Weise auszu¬
dehnende poetische Kreis so eng wie nur möglich
ein Tuftraum, dessen Sauerstoffgehalt längst er¬
chöpft. Er genügt, den singulären Einfall einer
Novelle in seine eigentümliche Stimmung zu
setzen, einige Szenen mit dem raffinierten
Untwortspiel von Wendungen natürlich auszu¬
füllen. Wo der Witz, die Gewandtheit, der
theatralische Intellekt vorschlagen, läßt sich mit
diesem Gegebenen unter argen Verzerrungen,
Vergröberungen und Übertreibungen ein Schein
von Konflikten, kein wirklicher tragischer Gegen¬
satz herausstellen, der auf bleibenden, allgemein
ausgreifenden, unentrinnbar willentlichen, öku¬
menischen Droblemen und Charakteren beruht
und eben die erhabene Leidenschaftsfähigkeit,
=Bereitschaft und =Beseligung der Menschen zum
igentlichen Gegenstande hat. Aber auch im
Epischen stößt diese innerste Begrenztheit des
Sehens, Wollens, Empfindens sich an ihrer
Enge blutig, ohne sie zu durchbrechen. Dieses
peinliche wider den Stachel Löcken zeigt
der „Weg ins Freie“. Der eben beschriebene
Charakter wird hier im besonderen mit einer
beim Mißverhältnis von Inhalt und Aufwand
grotesken Umständlichkeit auseinandergesetzt,
wobei das „Erfinden“, die Deutung des
gegebenen Erlebnisgehaltes, seine Einstellung in
die Gesamtheit des Zeitlichen, Gesellschaftlichen,
Dolitischen sich höchst fragwürdig übernimmt und
aus dem ganz Bedingten und Unzulänglichen
eine Art von Wiener Weltbild konstruiert, dessen
Schiefe und Dürftigkeit nicht einmal eine sub¬
ektive Wahrheit zukommt. „Der Weg ins Freie
welch ein Weg und welch eine Freiheit!
ver¬
tellt seinen Erlebniskreis allerdings mit einer Un¬
menge von Figuren, er spielt in dem eigentüm¬
lichen Milieu des reichen Wiener Judentums,
das sein im Grunde ewiges Ghetto für die Welt
zu halten und auszugeben geneigt ist, weil es Geld
genug besitzt, Fahrkarten zu bezahlen, wohin nur
Eisenbahnen und Schiffe reichen und bei der
Käuflichkeit sämtlicher realen Werte, auch die
inneren miterworben zu haben glaubt. Wer aber
wollte dieses in jedem Sinne beschränkte Segment
einer Gesellschaft ernstlich für die Welt, auch
ntur für die Wiener Welt nehmen, seine Figuren
und Begebenheiten, mögen sie noch so „wahr“
nach tatsächlich vorhandenen „Jours“, Cages¬
ereignissen und Modellen abgeformt sein, für die
eelische und geistige Gesamtheit dessen, was eine
Stadt wie Wien, besitzt, will, ausdrückt!